Lederjackenwetter, das klingt nach Herbst, und das rote, regenbenetzte Ahornblatt auf dunklem Grund, das Frída Ísbergs zweisprachigen Gedichtband in der Ausgabe des Elif Verlags (2021) schmückt, verstärkt diesen Eindruck auch noch. Aber wer davon auf düster-melancholische Naturdichtung schließt, irrt. Das Wetter mag in Island zu jeder Jahreszeit rau sein, Lederjacke trägt das lyrische Ich jedoch, um sich selbst und seine Seele vor Blicken, Zuschreibungen und Verletzungen zu schützen – wie eine zweite Haut eben.
Das spiegelt sich ein Stück weit bereits im Arrangement der Gedichte in drei Kapiteln, die 1.p (1.pers.), 2.p. (2.pers) und Við (Wir) überschrieben sind. Die erste Person, das Ich ist so ehrlich wie verletzlich und die Gedichtform für mein Auge und Ohr zugleich zeitlos streng wie selbstverständlich von heute. Etwa in diesem Gedicht auf Seite 15 von Frída Ísbergs Buch:
JAKOBSMUSCHEL
ich spüre es am psst
dass empfindsamkeit eine schwäche ist
etwas das man versteckt
so versteckte ich sie
nicht wie süßigkeiten
die man später essen will
sondern wie eine blassbleiche
aderblaue jakobsmuschel
die nicht zerbrechen darf
(Frída ISberg, "Lederjackenwetter", S. 15)
Im zweiten Kapitel tritt das Ich in einen Dialog mit dem Du, manchmal ist es auch umgekehrt, und es wird vom Du besucht, ja geradezu heimgesucht wird wie im Gedicht RUHE, das auf Seite 54 in „Lederjackenwetter“ zu finden ist:
RUHE
in dem monat der am längsten ist
kommt eine cellistin zu mir
ihre augen blinken: cello schlag slow
ich denke bei mir:
vielleicht spielt sie auf die ruhe an
vielleicht geht sie langsam zu werke
aber so geht sie nicht
sie geht mir auf die nerven -
versucht die drähte voneinander zu trennen
hier ist die erde
hier ist der strom, die phase
ich frage sie nach dem blauen draht
frage sie nach dem neutralleiter
ob es möglicherweise egal ist
ob es möglich ist den strom auf andere weise zu leiten
es einfach zu ignorieren
die cellistin schüttelt den kopf
ein instrument muss immer wieder gestimmt werden, sagt sie
es ist normal ab und zu falsch zu klingen
erlaube dir manchmal zu lächeln
auch wenn du es nicht so meinst
erlaube dir manchmal ein fensterwetter zu sein
(Frída Ísberg, "Lederjackenwetter", S. 54)
Fensterwetter? Was für ein wunderbar poetisches Wort am Schluss eines Gedichtes, das mich mit der Verschränkung aus in Sprache übersetzen Bilder aus Musik und Technik längst gepackt hatte, sodass ich sozusagen innerlich auf der Stuhlkante hocke, die Augen staunend geweitet, den Atem anhaltend, auf dem Sprung in den Schlusspunkt, die Pointe – die dann dank des Fensterwetters eine außerordentlich überraschende ist. Und dank der Übersetzer Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer erfahre ich in einer kleinen Fußnote auch noch, dass „Fensterwetter“ (gluggaveður) ein feststehender Begriff im Isländischen ist, der die Art Wetter beschreibt, die beim Blick durchs Fenster schön aussieht, sich jedoch beim Verlassen des Hauses als eisig kalt erweist.
Die meisten Markierungen – diese bedeuten für mich „das Gedicht will ich wieder und wieder lesen!“ – finden sich im dritten Kapitel, mehr, als ich hier sinnvoll zitieren kann. Wie aber soll ich mich für ein Beispiel entscheiden? VERTRAUEN (S. 65) zeichnet ein Bild so stimmig und passend wie eine für die eigene Seele maßgeschneiderte Lederjacke, das ich das Gedicht am liebsten umarmen möchte. KRITISCH (S. 67) sprudelt förmlich über vor Sprachspielen und hintergründigem Humor, das fühlt sich an wie ein wirbelnder Tanz. Und dann ist da noch BÜRDE (S. 71), in dem sich vieles verbindet und bei dem ich mich frage, ist dies von heute aus betrachtet ein sehr modernes Gedicht, das dennoch zeitlos ist?
VERTRAUEN
erzähl mir nichts mehr von schönen frauen
ich möchte mich nicht daran erinnern wie ich aussehe
ich möchte ohne spiegel durch die straßen laufen
und in der nase bohren können
ich möchte in mir selbst aufgehen können
wie ein stein in einem stein
in mir selbst ruhen
wie eine wiese in einer wiese
gib mir eine jacke anderer art
eine andere art von schutz
vertrauen
(Frída Ísberg, "Lederjackenwetter", S. 54)
Was wäre diesem Wunsch hinzuzufügen – abgesehen von meinem egoistischen Wunsch nach mehr von Frída Ísberg, am liebsten in zweisprachigen Ausgaben, sodass man beim Lesen versuchen kann, sich obendrein die Klänge vorzustellen, die die Autorin beim Erschaffen der Wortgebilde und Sprachbilder in ihrem inneren Ohr hörte?