Grundgefühle literarisch

Nach Spinoza gibt es drei Grundgefühle: Begierde, Trauer und Freude. Zwei davon standen im Zentrum von zwei Büchern, die ich kürzlich auslas, über die ich mich nun freue zu schreiben: Eliza Clarks „She’s Always Hungry“ und Chimamanda Ngozi Adichies „Notes on Grief“.

Zwi Bücher auf violettem Grund: in der rechten Bildhälfte das rosafarbene "She's Always Hungry", das den Rand einer pinkfarbenen Badewanne zeigt. auf deren Rand die Finger einer dunkelgrünen Hand mit gelblichen Fingernägeln ruhen: Badet hier ein Zombie oder ein Alien? Schräg mit der rechten oberen Ecke ragt Chimamanda Ngozi Adichies "Notes on Grief", ein schmaler Band mit einem abstrakten, dominant grauen Muster mit braunorangenen Hervorhebungen, in Clark's Cover hinein
Trauer und Begierde gesehen mit Schriftstelleraugen, so könnte man „Notes on Grief“ und „She’s Always Hungry“ betrachten.

Die Kurzgeschichtensammlung „She’s always Hungry“ der britischen Autorin Eliza Clark begegnete mir per Zufall in Prag. Im Globe Cafe and Bookstore stand sie als „Staff’s Choice“ ausgezeichnet im Regal und das machte mich neugierig darauf, welche Aliens sich wohl in dem gruselig pinkfarbenenen Bad auf dem Cover verbergen würden. Obendrein suchte ich gerade ein weiteres Buch für die lange Rückfahrt mit der Bahn, und dafür erscheinen mir Kurzgeschichten per se gut geeignet. Genauso war es auch.

Ihre Kurzgeschichten sprühen vor Erfindungsreichtum und reichen in diesem tatsächlich thematisch ausgerichteten Band von ziemlich realistisch über klassischen Science Fiction mit Twist und Phantastik bis hin zu Horrorstories mit tiefen Wurzeln in der Realität. Und sie scheint in jedem dieser Genres absolut zuhause zu sein, erschafft darin teils hyperrealistische, teils überzeichnete Figuren und erzählt so suggestiv, dass man sich von ihr in jeden Abgrund, jeden Sumpf, auf ganz dünnes Eis und selbst in die Reichweite von Menschenfressern locken lässt. Dabei lässt sich schreibend mit Haut und Haaren auf ihre Geschichten ein, sodass wir Lesende ebenfalls ganz nah dran sind – was mal grotesk, mal verrückt, mitleiderregend und sehr oft auch erschreckend oder eklig wirken kann. Insofern ist ihr „Content Guide“, in dem sie am Ende des Buches auf die potentiell abstoßenden Inhalte eingeht, womöglich eine gute Idee, denn man kann ihn benutzen, wenn man es für nötig erachtet, kann es aber auch lassen, und die Stories einfach so erkunden, wie sie einem begegnen. Wobei ich sagen muss, es würde mich schon interessieren, was für andere die gruseligsten Geschichten waren. Für mich war es „Shake Well“, die Aknestory, sozusagen.

„She’s Always Hungry“ zu lesen war für mich über weite Strecken so, als besuche man einen literarischen Jahrmarkt voller Achterbahnen, Gruselkabinette und anderer Angeboten, die dunkle und andere Begierden befriedigen — oder auch erst wecken. Eine Begierde weckt Eliza Clark allemal, nämlich die mehr von ihr zu lesen, die hoffentlich erst am Anfang einer langen Schriftstellerkarriere steht.

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adiche gehört längst zu den Großen und Bekannten ihres Fachs, und auch ich habe bereits das eine oder andere von ihr gelesen und schaue immer mal wieder nach, was mich denn als nächstes von den Werken reizen könnte, die ich noch nicht kenne. Als mir der Titel „Notes on Grief“ kurz nach dem Tod meines Vaters unterkam, landete er geradezu zwangsläufig auf meiner Leseliste. Allerdings dauerte es ein Jahr, bis ich das Büchlein endlich bestellte und dann brauchte es noch ein paar Monate, bis ich schließlich so weit war, es aufzuschlagen und zu lesen.

Adichies Vater verstarb überraschend während Corona in seiner Heimatstadt Abba, ein Schock für sie und ihre Familie und unter Pandemiebedingungen zudem ganz praktisch ein Problem, was die Organisation der Beerdigung anging – wie sollten all die Angehörigen, die über dem halben Erdball verstreut lebten, nach Nigeria kommen, wenn niemand wusste, wie lange die Flughäfen geschlossen sein würden? Wie würden sich diese Notwendigkeiten mit den Traditionen der Igbo vereinen lassen, die dem Verstorbenen viel bedeutet hatten und mit denen Adichie wenigstens teilweise hadert? So könnte man vielleicht den äußeren Rahmen der Notizen umreißen. Darin zeichnet sie zum einen das Leben ihres Vaters und wichtige Elemente ihrer beider Beziehung nach und widmet sich zum anderen dem Versuch, das Gefühl ihrer Trauer mit Worten zu fassen und zu bannen.

Stellenweise ist das tief berührend oder auch schwer beeindruckend. Manches kann ich aus meiner eigenen Trauererfahrung nachvollziehen – etwa das Stolpern, wenn man aus dem Schlaf oder tiefer Konzentration mit dem Gedanken, das muss ich ihn fragen, hochschreckt, nur um im nächsten Moment zu begreifen, das ist unmöglich, weil er nicht mehr da ist. Anderes ist mir fremd, wie ihre Wut auf andere Trauernde oder andere Formen des Trauerns. Aber jede Trauer ist anders, also gehört das wohl dazu.

Dennoch blieb für mich am Ende ein fades Gefühl der Enttäuschung zurück. Nachdem mich an „We All Should Be Feminists“ gerade die Mischung aus Persönlichem, Privatem und Politischen fasziniert hatte. hatte ich beim Thema Trauer wohl etwas ähnliches erwartet. Doch wo der feministische TED-Talk aus der gelebten Erfahrung heraus Türen für alle aufstößt, bleiben die Trauernotizen rein persönlich. Als ebenfalls Trauernde kann ich das verstehen. Als Leserin hätte ich mir mehr gewünscht.

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