Ausgelesen: „Our Strangers“

Was für ein Titel „Our Strangers“ – unsere Fremden, als sollten diese im selben Moment umarmt und vereinnahmt wie abgewehrt, zumindest als fremd auf Abstand gehalten werden. Darauf muss man erstmal kommen. Lydia Davis tat’s und schrieb nicht nur rund 340 Seiten Erzählungen (kürzeste, kurze bis längere), sie beschloss noch dazu, dieses Buch solle man nur im stationären Buchhandel erwerben können. Womit wir gleich beim Eigensinn wären, der die Autorin wie auch ihre Arbeit(en) im besten Sinne auszeichnet.

Das Cover von Lydia Davis Buch "Our Strangers"
Ein dickes Buch mit vielen (sehr) kurzen und manchen längeren Stories voller Überraschungen: Lydia Davis „Our Strangers“

Ihre Kürzestgeschichten haben oft etwas von Prosagedichten, wie man beispielsweise an „Young Housewife“ (Our Strangers, S. 38) sehen kann:

That day, how she saw herself:
stocky in shorts,
limp hair, bristling legs,
trudging out into the yard with the baby
and then later into the yard again
with the laundry.
But wasn't it also the truth now?

Eine Alltagsbeobachtung, präzise in Worte gefasst, wie ein Foto, dessen Tiefenschärfe mehr enthüllt, als man im Moment des Fotografierens begriff. Hier, im Falle der jungen Hausfrau, ist das Selbstbild, das plötzlich von ihr selbst als zugleich fremd wie wahr empfunden wird. In „Sabbath Story #1: Circuit Breaker“ könnte man sich fragen, wer ist hier ‚der Fremde‘: Die orthodoxen Juden, die während einer Hitzewelle in der Stadt auf einen Nichtjuden warten, damit dieser am Sabbath die Sicherung wieder reinschraubt, sodass die Klimaanlage wieder läuft – oder der freundliche Helfer, der anschließend zum Dank auf ein Glas Milch und Kekse in die nun wieder gekühlte Wohnung eingeladen wird?

Das ist nicht zuletzt eine Frage der Perspektive, und so verwundert es nicht, dass eine Story gleich „A Matter of Perspective“ (S. 81) heißt. Hier glaubt die Ich-Erzählerin, in etwas Weißem, das am Haus vorbeiflattert, einen seltenen Schmetterling zu erblicken, doch dieser erweist sich lediglich als ein Zustelleinschreiben in der Hand des Briefträgers.

In der titelgebenden Geschichte „Our Strangers“ (S. 108ff), die mit der Feststellung beginnt „People are strangers to me“, dreht sich alles um Nachbarn, die Fremden, mit denen man Tür an Tür oder Gartenzaun an Gartenzaun lebt, und die doch so ganz anders sind als man selbst, weil sie ‚andere Gewohnheiten‘ haben, wie die Ich-Erzählerin feststellt. In elf kurzen Episoden erzählt sie von verschiedenen Begebenheiten mit Nachbarn, wohl- wie übelgesonnenen, eigenen wie denen von Freunden und beleuchtet dabei einerseits in diesen Schlaglichtern die fremden Leben, während sie andererseits ihren mal befremdeten, mal befremdlichen Blick auf diese enthüllt. Mich würde interessieren, wie andere Menschen diese Geschichte lesen und ob sie am Ende die Ich-Erzählerin wohl gern als ihre Nachbarin hätten oder lieber nicht. Ich schwanke bei jedem erneuten Wiederlesen.

Köstlich und sehr eigen ist „Pardon the Intrusion“ (S. 139 ff), das mit 28 Seiten als ausgesprochen lange Erzählung in einem Band von Lydia Davis auffällt. Aber ist es überhaupt eine Erzählung, mag man sich fragen? Schließlich besteht der Text aus lauter kurzen Anfragen, Gesuchen und Geboten, wie man sie früher im Kleinanzeigenteil von Lokalzeitungen gefunden hätte, heute wohl eher in Nachbarschaftsgruppen im Internet oder auch an entspechenden Pinwänden in Wohnanlagen, Gemeindehäusern oder Supermärkten. Da werden Möbel und Musikinstrumente angeboten, Betreuer und Musiklehrer gesucht, Kayaks verkauft und Kinderbetten verschenkt, Hochzeitskleider geliehen und ein Hahn wechselt gleich mehrfach den Besitzer. Wir erfahren nichts über die Umstände, weder Ort noch Zeit noch die Beteiligten, nur ihre Nachrichten erreichen uns beim Lesen. Anfangs fühlte ich mich an einen Katastrophenfilm erinnert, in dem alle Menschen fort sind, nur ihre Gegenstände und andere Hinterlassenschaften sind noch da. Dann wird klar, es vergeht Zeit, Dinge erhalten neue Benutzer, manche werden mehrfach weitergegeben, und stellenweise kann man Veränderungen im Leben der Menschen, die hier kommunizieren ahnen. Was für eine Idee, eine Geschichte gewissermaßen in den Leerstellen zwischen einem nachbarschaftlichen „Gesucht/Gefunden“ zu erzählen!

Zwei weitere Geschichten möchte ich noch herausgreifen aus der Vielzahl ungwöhnlicher literarischer Begegnungen im Kleinformat, die dieser Band bietet: „New Things in My Life“ (S. 228ff) und „How He Changed Over Time“ (327ff).

In „New Things in My Life“ erzählt die Ich-Erzählerin davon, dass sie große Schwierigkeiten hat, sich an neue Dinge in ihrem Leben zu gewöhnen, sodass sie ihren Ehemann lange Zeit mit dem Namen seines Vorgängers und den jüngeren Sohn mit dem Namen seines älteren anredet. Was erst wie eine bichselartige Erzählung über Vergesslichkeit und Sprachverwirrung anmutet, entpuppt sich als Verlorenheit in der Zeit — oder auch die Gleichzeitigkeit von Erinnerungen und gegenwärtigen Erfahrungen und dem unmöglichen Wunsch, den Lauf der Zeit anzuhalten.

In gewisser Weise stellt „How He Changed Over Time“ so etwas wie ein Spiegelstück hierzu dar. Hierin verändert sich ein offenbar so reicher wie einflussreicher Philantroph mit musischen Begabungen, offenem, wachen Geist und wissenschaftlichen Interessen in einen engstirnigen, böswilligen, lügenden Menschen. Es beginnt damit, dass ihn das Geigenspiel frustriert, als seine Finger unbeweglicher werden, und auch, wenn die Geschichte völlig offen lässt, wann und wo sie spielt, ich anfangs dachte, es könnte sich um eine historische Figur, vielleicht einen frühen US-Politiker im 18. oder 19. Jahrhundert handeln, bekam ich doch nicht die Frage aus dem Kopf, ob Donald Trump je Geige gespielt hat.

Unzweifelhaft dagegen ist, dass ich das Buch wiederlesen werde, während ich sehnsüchtig auf ein neues Werk von Lydia Davis warte!

P.S.: Traurig und seltsam fand ich, dass Peter Bichsel ausgerechnet an dem Tag starb, als ich „After Reading Peter Bichsel“ (S. 282ff) las.

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