Betrachtungsweisen

Es gibt Stücke, da hätte ich gerne die Fähigkeit, sie auch durch die Augen anderer Menschen zu sehen. „Sakrileg„, das gestern Abend im Essener Grillo-Theater Premiere hatte, ist so eines und das gleich aus mehreren Gründen. Denn das Stück, dass Regisseurin Saar Magal zusammen mit dem Ensemble entwickelt hat, beschäftigt sich mit der Genesis, die den drei abrahamitischen Religionen zugrundeliegt, was schon mal drei bzw. vier Blickwinkel je nach kultureller bzw. religiöser Herkunft nahelegt, und es tut dies auf eine sehr spezielle Weise, indem es als Physical Theatre Elemente von Sprech- und Tanztheater, Musik und Videokunst und sicher noch anderes mehr zusammenbringt.

Aus dem Dunkel? Mathias Znidarec, Silvia Weiskopf, Johannes Walter in „Sakrileg“von Saar Magal
Foto: Nils Heck

Es beginnt im Dunkel, menschliche Körper bewegen sich auf spiegelndem Tanzboden, als müssten sie sich aus der Ursuppe des Lebens selbst herausziehen, während in mehrfachen Schleifen der „König der Welt“ davon spricht, wie wohl er sich fühlt unter den Wesen, die ihn verkörpern, erst recht, wenn dabei Zwietracht entsteht. Anfangs fällt es etwas schwer, den Text tatsächlich zu verstehen, aber irgendwann ist klar: das Ich, das hier spricht, ist Gott, genauer gesagt, ein ziemlich bösartiger Gott. Die Göttin dagegen, die anschließend allein zu allen spricht (Ines Krug), erweist sich als freundliches Wesen, das jedoch nur noch sporadisch auftauchen wird, verdrängt von „Gott dem HERREN“ und von der man Lilith (die erste Frau Adams, die aus der Bibel verdrängt wurde) als eine letzte Spur ansehen kann. Denn im Zentrum des Stückes dreht es sich um den rachsüchtigen, eifersüchtigen, absoluten Gehorsam und immer wieder auch Opfer fordernden Gott aus der Genesis – den, der Adam und Eva aus dem Paradies vertreibt und vor allem den, der von Abraham fordert, seinen Sohn Isaak zu opfern.

Dabei springt das Stück zwischen den verschiedenen Erzählungen aus der Genesis aber auch anderen Texten, etwa dem von Einav Zangauker, deren Sohn am 7. Oktober von der Hamas entführt wurde und deren Worte für ihr Warten auf seine Rückkehr zutiefst berühren, hin und her. Das dürfte es um so schwerer machen, einzelne Episoden zuzuordnen, wenn man nicht zufällig sehr bibel/tora/koranfest ist oder gar so vorgebildet, dass man womöglich obendrein die unterschiedlichen Lesarten und kulturell wirksamen Bedeutungen der Genesis in den drei Buch-Religionen kennt. Mir sind immerhin Bibel und wenigstens in Teilen die Tora teils langvertraut (was man als Kind nicht alles aus schierer Langeweile liest, um ihm dann im Studium der Literaturwissenschaft etwas unvermutet wiederzubegegnen) und mit der Abraham/Isaak-Geschichte hatte ich mich erst vor ein paar Monaten bei Omri Boehm beschäftigt.

Aber vielleicht ist es auch gar nicht nötig, den Überblick zu wahren? Die Bilder, die das Ensemble mit Tanzformen und Sprache auf die wandelbare Bühne (ich wusste gar nicht, wie tanzbar Kletterwände sein können!) zaubert, machen den Besuch des Stücks für sich genommen bereits zu einem spannenden Ereignis, aus dem jede und jeder für sich etwas mitnehmen kann. Und, wer weiß, vielleicht findet sich dabei der Spalt in der Tür, durch den wir schließlich zu einem Miteinander ohne Gewalt und Unterdrückung und zu friedlicheren Formen des Glaubens kommen, den die Regisseurin im Interview im Programmheft beschreibt?

Tja, und jetzt wüsste ich wirklich gerne, wie die anderen im ausverkauften Grillo-Theater gestern Abend diese Premiere erlebten, was sie wiedererkannten, was ihnen neu war, und vor allem, welche Bilder, Ideen und Fragen sie mit nach Hause nahmen …

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