Verschlungene Wege: Die Mitternachtsbibliothek

Manchmal ist der Weg, den ein Buch zu einem nimmt, genauso verschlungen wie sein Plot. Ganz gleich, ob ich an der Uni Literatur für Nicht-Literaturwissenschaftler unterrichte, mit Jugendlichen kreatives Schreiben übe oder eine Fortbildung für Schreibprofis gebe, stets sprechen wir irgendwann auch über Lieblingsbücher. So auch letzten Sommer in der Gruga, wo mir von Matt Haigs Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ vorgeschwärmt wurde.

Das Cover von Matt Haigs "Die Mitternachtsbibliothek" auf einer dunkelblauen Tagesdecke
Das Leben als eine Bibliothek der Möglichkeiten; Matt Haigs „Die Mitternachtsbibliothek“

Ich hörte interessiert zu, notierte den Titel, und dann kam der Sommer mitsamt Norwegenreise und ganz anderen Büchern (und weiterhin beständig wachsender Buchwunschlisten). Es wurde Herbst, mehr Kurse waren zu unterrichten, mehr Bücher zu lesen, ich dachte schon gar nicht mehr an Matt Haigs Buch, geschweige denn, dass ich es erwähnte, und schließlich kam Weihnachten. Und mit ihm „Die Mitternachtsbibliothek“ (2021 in der deutschen Übersetzung von Sabine Hübner erschienen) – meine Schwester war dem Buch zufällig begegnet und fand, wo ich doch ‚dauernd‘ lese und durchaus auch einen Sinn für das Fantastische habe, könnte das etwas für mich sein.

Die Prämisse ist ein Traum für jeden Buchfan: eine Bibliothek auf dem Weg im Jenseits, gefüllt mit all den Leben, die man hätte führen können. Schließlich ist ja jede Entscheidung, die wir fällen, der Ausschluss von zig anderen Möglichkeiten – das gilt nicht nur im Leben, sondern mindestens ebenso sehr beim Schreiben: Welche Autorin, welcher Autor hätte noch nicht mit diesem Wissen gehadert, wenn wir beim Plotten vor der Frage stehen, diese oder jene Weggabelung für unsere Geschichte zu wählen? Und bei Matt Haig hat Nora Seeds, die sich gerade aus Verzweiflung das Leben nehmen wollte, nun ‚ganz real‘ die Chance, all die Alternativen tatsächlich auszuprobieren, und alles, was sie bereut, anders zu machen.

Spannender Gedanke, selbst für jemand wie mich, die bei der Frage nach Entscheidungen, die sie bereut, erstmal Fragezeichen in den Augen hat. Bei Nora Seeds, einer depressiven Britin, ist das Buch der Reue jedoch sehr dick, und so springt sie in ganz verschiedene Leben, als hätte man ihr die Möglichkeit gegeben, nach Belieben zwischen den Paralleluniversen eines Multiversums zu wechseln. Dabei stellt sie fest, wie viel eine einzelne Entscheidung ändern kann, wie unendlich groß die Zahl an Möglichkeiten ist (zahllos wie die Äste eines unsterblichen, ewig wachsenden Baumes, das Bild benutzt sie irgendwann einmal). Zugleich stellt sich zunehmend die Frage, wie sehr ist sie eigentlich die jeweils andere Nora Seeds, deren Platz sie für eine Weile einnimmt? Könnte sie in einem dieser letztlich ja fremden Leben glücklich werden oder würde sie sich immer falsch, wie eine Diebin oder Betrügerin dabei vorkommen? Und dann sind da ja auch noch die anderen Menschen, Familie, Freunde, Nachbarn, deren Leben mit unserem verwoben sind …

Matt Haig baut aus seinem Gedankenspiel einen spannenden, süffig zu lesenden Plot. Eigentlich machen es Bücher mit überwiegend kurzen Kapiteln ja leicht, sie zwischendrin aus der Hand zu legen; schließlich kommt einem ja dauernd das Leben dazwischen, wenn man gerade so schön liest. Bei diesem Buch jedoch war es umgekehrt: wie ein Kind, das vor dem Zubettgehen bettelt, nur noch ein Comic, eine Geschichte, so dachte ich ’nur noch ein Leben lesen‘ – und dann wurden doch drei, vier, fünf daraus. Wie schön, wenn man die Zeit hat, sich lesend diesem Sog zu ergeben.

Was macht es da schon, dass das Ende irgendwann vorhersehbar wird und Haig mir in den letzten Kapiteln für meinen Geschmack zu viel erklärt? Wer also einen Pageturner sucht, Bibliotheken und Paralleluniversen mag, der ist hier allemal richtig. Bloß einigermaßen Zeit zum Lesen sollte man schon besser mitbringen. 😉

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