Es muss ungefähr ein Jahr her sein, dass wir zufällig am späten Abend auf die BBC-Verflilmung von J.B. Priestleys „An Inspector Calls“ aus dem Jahr 2015 stießen und bei ihr hängenblieben. Klassisch-modernes britisches Theater in der Tradition des ‚well-made plays‘, ein Kammerspiel, das zwar 1912 spielt, doch eine packende Geschichte über das, was uns Menschen miteinander verbindet und die Verantwortung, die wir füreinander haben, erzählt. Ich war fasziniert und wollte unbedingt mehr wissen – woraufhin mein Lebensmensch mir „An Inspector Calls and Other Plays“ (Penguin Modern Classics repr. 2000) schenkte.
Dabei hatte er mir etwas Entscheidendes voraus, hatte er doch Priestleys Stück in Wien in der Schule gelesen und diskutiert, während mir dieser Autor und Dramatiker (leider scheinen die Prosawerke allesamt vergriffen und viele Stücke auch kaum mehr aufzutreiben) bis dato völlig unbekannt war.
„An Inspector Calls“, in dem es um die Verantwortung von fünf Menschen für den Selbstmord einer jungen Frau geht, spielt 1912 und wurde 1946 uraufgeführt. Dabei ist das Stück nicht nur dramaturgisch spannend, was die Führung der Figuren und der Wendepunkte sowie die ethischen Fragen angeht, mir erscheint darüber hinaus bemerkenswert, wie es Priestley gelingt, so kurz nach dem 2. Weltkrieg die so ganz andere, vollkommen optimistische, ja in manchem geradezu fahrlässig unbeschwerte Atmosphäre kurz vor dem 1. Weltkrieg heraufzubeschwören – und darin doch zugleich die Schrecken und das Unheil mitzudenken, das den (Premieren)Zuschauern deutlich bewusst gewesen sein muss.
Überhaupt erweisen sich für mich seine Stücke neben all ihren eigenen Stärken, mit denen sie Themen angehen, die bis heute gültig sind (vor allem, was die Beziehungen und Abhängigkeiten unter uns Menschen angeht) als wahre Zeitkapseln. Wobei es in zwei der vier Stücke in diesem Band tatsächlich auch um Zeitfragen geht: In „Time and the Conways“ spielen der erste und der dritte Akt am selben Abend, nämlich dem von Kays 21. Geburtstag im Jahr 1919, während der zweite Akt einen Zeitsprung in die Gegenwart des Jahres 1937 darstellt — der im dritten Akt einer der Figuren bewusst ist, was zu Verwerfungen im Stück und philosophischen Fragen beim Lesen respektive beim Zuschauen führt.
In „I Have Been Here Before“ geht es um die Frage, ob unser Leben von einem unabänderlichen Schicksal bestimmt wird (welches sich in wiederkehrenden Zyklen wieder und wieder wiederholt) oder es die Chance gibt, dem durch eine willentliche Entschiedung zu entgehen. In einer Inn im Yorkshire Moore treffen drei bzw. vier Menschen aufeinander, deren Lebenswege hier einen Scheideweg erreichen – und zwar, wie eine der Figuren beharrt, eben nicht zum ersten Mal. Auch, wenn die Idee dahinter von einem eher obskuren Esoteriker namens P.D. Ouspensky stammt, gelingt Priestley mit ihrer Hilfe ein interessantes Gedankenexperiment, das dank seiner Figuren trotz allem berührt.
Womöglich am liebsten auf der Bühne sähe ich „The Linden Tree“ von 1947, ein vom Ursprung her ganz und gar zeitgenössisches Stück, in dem die Frage nach der Verantwortung, die wir für uns und füreinander haben, noch einmal auf ganz andere Art gestellt wird: Am 65. Geburtstag von Professor Linden, der an einem kleinen College Geschichte unterrichtet, kommt seine Familie zusammen und es prallen höchst unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinander, um in der Frage zu kumulieren, wie soll man leben? Geht es um Genuss, um Gemeinschaft, Geld und Anerkennung, steht ohnehin der Untergang bevor (siehe Atombombe und kalter Krieg!) oder muss man gerade deswegen erst recht an der Zuknft festhalten? Ein Stück, das uns heute noch eine Menge zu sagen hätte.
Schade, dass Priestleys Stücke zumindest hier in Deutschland von den Spielplänen verschwunden sind. Aber immerhin einen Lichtblick gibt es: „An Inspector Calls“ ist als Film bei verschiedenen Streaming Diensten und wohl demnächst auch wieder auf One zu sehen.