Gedankenfutter: „Mothers, Fathers, And Others“ 2

In den verbleibenden fünf (theoretisch sechs) Essays von Hustvedts „New Essays“ geht es teils um Beziehungen zwischen Menschen und bildender Kunst/Werken der Bilden Kunst und teils um gewaltvolle Beziehungen zwischen Menschen.

In „Living Thing“ geht die Autorin der Frage nach, was passiert, wenn Menschen Kunst betrachten – was macht ein Objekt zur Kunst, wie kann es sein, dass diese Werke in uns bestimmte Gefühle auslösen, die weit über den Moment der Betrachtung hinausgehen? Ähnlich wie in „The Enigma of Reading“, wo sie davon spricht, dass das Lesen eines Romans etwas von Bessessenheit hat, weil mit den Worten die Gedanken eines anderen geradezu physisch in den Lesenden eindringen und Teil von ihm werden, wird Kunst durch ihre Betrachtung einverleibt – und das von jedem Betrachter, jeder Betrachterin auf eigene, einzigartige Weise. In diesem Sinne ist ein Kunstobjekt ein „living thing“, ein „lebendes Etwas“, das von Körper zu Körper reist.

„Visiting St. Francis“ kreist um Hustvedts Erfahrungen mit einem ganz spezifischen Kunstwerk, St. Francis in Estasy, das sie wiederholt in New York in der Frick Collection besucht. Detailliert beschreibt sie darin den Vorgang, wie sie aus der physischen Welt des Jetzt durch die Betrachtung des Bildes immer tiefer in es eintaucht, mehr und mehr Einzelheiten ausmacht, und zugleich das Zeitgefühl verliert, bevor sie schließlich (jedes Mal aufs Neue) wieder geht, die Ausstellungsräume verlässt und wieder in die Realität des Jetzt zurückkehrt. Ein sehr intimer Text, der in mir den Wunsch auslöst, mich in der Sammlung des Folkwang Museums auf die Suche nach einem ähnlichen Bildbuddy zu machen.

In „Both-And“ geht es um Leben und Werk von Louise Bourgeois, deren Selfportrait das Cover der Essaysammlung ziert. Leider kenne ich sonst keine Werke von ihr, zumindest nicht, dass ich wüsste.

Das Cover der Sceptre-Ausgabe von Siri Hustvedts "Mothers, Fathers, And Others"
„Selfportrait“ von Louis Bourgoise auf dem Cover von Siri Hustvedts Essayband „Mothers, Fathers, And Others

„What Does a Man Want?“ beginnt mit einer Definition von Mysogynie, dem griechischen Wort für Frauenhass. Wie kann es sein, dass Männer Frauen hassen und dies ein Phänomen ist, das vielleicht seine Gestalt wandelt, aber seit Jahrhunderten in der Menschheitsgeschichte präsent ist? Wieso hasst ein Mann eine Frau, wenn kein Mensch auf der Welt ist, der nicht im Körper einer Frau heranwuchs und von einer Frau geboren wurde? Oder, anders ausgedrückt, warum kränkt anscheinend dieser Fakt manche Männer derart, dass sich womöglich daraus Frauenhass entwickelt? All die kruden Theorien, die im Lauf der Zeit allein ums Thema Empfängnis und Schwangerschaft aufkamen, bloß um irgendwie die Rolle des Mannes dabei zu glorifizieren und die der Frau herabzusetzen – vom Männlichen als Schöpfer, dem Geist, und Weiblichen als bloßem Körper, eben Gefäß antiker und mittelalterlicher Vorstellungen bis hin zur „egoistischen“ DNA als Informationsgeist, der sich (weiblicher) Körper bedient – alles nur, um sich nicht mit den komplexen Vorgängen während einer Schwangerschaft zu beschäftigen? Menschen sind merkwürdig, und derart eigenartige, willkürliche Einteilungen ließen mich schon als Kind ratlos zurück: wie konnte ein an sich intelligenter Mensch glauben, er sei bloß aufgrund seines biologischen Geschlechts oder eines schlecht begründeten Konstrukts namens Rasse einem oder einer anderen per se überlegen? Wie kann man(n) so dumm sein? Das werde ich nie begreifen, selbst wenn mir kluge Essays wie der von Hustvedt immer tiefere Einblicke in dieses Schein-Denken geben.

„Scapegoat“, der letzte Essay der Sammlung, beschäftigt sich mit dem furchtbaren Verbrechen an Sylvia Maria Likens Mitte der 1960er in Indianapolis, die von ihrer Pflegemutter und deren Kinder systematisch zu Tode gequält wurde. Ist Hass ansteckend, gibt es so etwas wie einen hypnotischen Zustand, der aus einer Gruppe einen mörderischen Mob macht und wenn ja, heißt das, jeder von uns könnte Teil von einem so schrecklichen Verbrechen werden? Diesen Essay zu lesen, fiel mir persönlich sehr schwer. So wichtig es ist, nicht wegzuschauen, es tut weh und verstört.

Es hat mich etwas ratlos zurückgelassen, dass dies der letzte Essay des Bandes ist. Was für eine überraschende Erknenntnis, dass ich mir ausgerechnet bei einer Sammlung von Sachtexten so etwas wie ein Happy End wünsche.

Allerdings bleibt so oder so am Ende dieses Buches eine Frage offen: Was ist mit „The Hedgehog“ passiert, der laut Inhaltsverzeichnis zwischen „Visiting St. Francis“ und „Both-And“ raschelnd durch die Seiten hätte trippeln sollen? Aufgrund seiner Platzierung ist anzunehmen, dass es sich um einen künstlerischen Igel gehandelt haben dürfte, was die Sache um so rätselhafter macht, als die stachligen Wesen ja nicht gerade zu den häufigen Sujets in der Kunst gehören. Was er wohl zu sagen gehabt hätte, frage ich mich. Und was ihn wohl davon abhielt, seinen Platz unter all diesen klugen Gedanken einzunehmen. Ich hoffe, eines Tages werde ich ihm doch noch begegnen und dieses Rätsel lösen.

Dieser Beitrag wurde unter Schreibkram abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert