Ausgelesen: „Die Markierung“

Woran macht sich fest, ob ein Buch als Utopie oder Dystopie verstanden wird? Und wie ordnet man ein Buch ein, das eben diese Frage erkundet, aber klug genug ist, sie nicht eindeutig zu entscheiden?

Das Cover von Frída Ísbergs "Die Markierung"

Verdammt gute Literatur ist Frída Ìsbergs Roman „Die Markierung“ (Hoffmann und Campe 2022, Originalausgabe 2021) allemal – ausgeklügelt gebaut, spannend und mit vielen Twists erzählt, und das aus der wechselnden Sicht sehr unterschiedlicher, aber allesamt in sich stimmiger, glaubwürdiger Figuren, die jede auf ihre Art um dieselbe Frage kreisen: wie umgehen mit dem Test, der die Empathiefähigkeit eines Menschen enthüllt?

Dieser Test und die auf ihm aufbauende Markierung – also der Eintrag in entsprechende, öffentliche Register, was sich dank erweiterter, technischer Möglichkeiten mit allerlei Schutzfunktionen/Überwachung koppeln lässt, wenn man das denn möchte – ist die Streitfrage in der isländischen Gesellschaft in Ísbergs Zukunftsvision. In den letzten Wochen vor der alles entscheidenden Wahl, durch die der Test für alle verpflichtend werden könnte, wird die Frage „dafür oder dagegen“ zum Brennglas, das sich auf alel möglichen gesellschaftlichen Probleme richtet. Während die einen mit der Markierung und sogenannten markierten Stadtteilen Zuflucht vor Gewalttätern und Sicherheit suchen und die Befürworter darauf beharren, es gehe beim Test darum, den Menschen per Therapie zu helfen, bevor sie von Empathielosen zu Verbrechern würden, sehen die Gegner nur Ausgrenzung und die Zementierung der gesellschaftlichen Spaltung. Entsprechend aufgepeitscht ist die Stimmung in den letzten Wochen des Wahlkampfs, der für manche ganz praktisch zu so etwas wie einem drohenden Wendepunkt wird …

Vor diesem Hintergrund verwebt Ísberg die Geschichten von vier ganz unterschiedlichen Menschen – der Lehrerin Vetur, dem Psychologe & Wahlkämpfer Ólafur, der Geschäftsfrau Eyja und dem Schulabbrecher Tristran – zu einem komplexen Gebilde um die nur scheinbar eindeutige Frage, ob sich per Gesetz Klarheit über Gut und Böse schaffen lässt. Sie erzählt mit großem Gespür für perfekte Perspektivwechsel und atemberaubende Plottwists, die mich beim Lesen ähnlich mitreißen wie die Diskussionen der Figuren in Jasmina Rezas Theaterstücken – schien mir gerade noch die Haltung von Figur A sinnvoll, eröffnet der Blick durch die Augen von Figur B einen ganz neuen Aspekt und legt die gegenteilige Haltung nah …

Chapeau. Ein großes, philosophisches Thema glaubwürdig und spannend zu erzählen, ohne dabei wahlweise in einen belehrenden Erklärmodus zu verfallen oder um der Lesbarkeit willen Abstriche in der Komplexität zu machen, das muss man erstmal hinkriegen. Bleibt nur zu hoffen, Ísberg schreibt weitere Roamne (wobei ich auch ihre Lyrik sehr schätze!). Und die Menschheit erfindet bitte niemals so einen Test nebst Markierung.

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