Esther Kinsky wollte ich schon längst gelesen haben. 2020 kam ich dann dank Olga Tokarczuks Literaturnobelpreis mit „Spiel auf vielen Trommeln“ an eine Übersetzung von Esther Kinsky, Und doch dauert es noch zwei weitere Jahre, bis endlich zum ersten Mal ein Buch las, dass ganz Esther Kinskys Feder entsprang: „Am Fluss“.
Menschen, die mich kennen, dürfte diese Wahl kaum überrascht haben. Ich komme vom Rhein und wenn ich dieser Tage beim Pendeln zwischen unserer Wohnung und der Ruhrlandklinik in Werden auf der Brücke stehe und den Bus erwarte, trifft Sehnsucht auf Heimweh, sozusagen, wenn ich auf die Ruhr hinunterschaue und mir wünsche, näher am Fluss, wenigstens mit Blick auf einen Fluss zu leben. Und nicht umsonst beginnt meine Kriminalnovelle „Der Tod ist ein langer, trüber Fluss“ mit der simplen Feststellung „Ich liebe den Fluss“.
Kinskys Buch beginnt dagegen mit einem König; „In der Zeit vor meiner Abreise aus London begegnete ich den König. Ich sah ihn abends, im türkisen Dämmer.“ Zwei Sätze, die mich sofort gefangen nehmen. Denn die Dämmerung mit ihrem magischen Licht, die blaue Stunde, liebe ich sehr (was die Kameraleute, die meine Drehbücher umsetzten, und die dazugehörigen Produzenten gelegentlich in Verzweiflung versetzte, denn jede Dämmerung ist anders …). Und dieser König ist eine ganz fabelhafte Gestalt, geliebt von den Raben, nicht weiter beachtet von den anderen Menschen, gehört er – neben den Frommen, Jackie, und ein paar anderen Gestalten – zu den wiederkehrenden Figuren.
Oder anders, treffender gesagt: den Figuren, die wiederholt ins Blickfeld der Ich-Erzählerin geraten, die beinahe 400 Seiten lang einerseits mit gepackten Koffern und Kisten einer ominösen Abreise harrt, andererseits aber ständig mit Schauen und spazieren gehen beschäftigt ist. Eine Ich-Erzählerin, die zwar einige Gemeinsamkeiten mit Esther Kinsky haben dürfte, die jedoch durch den Zusatz „Roman“ auf dem Cover zur Fiktion erklärt wird. Und das passt, denn in diesem Roman ist alles in einem Dazwischen. So wenig greifbar, wie die Abreise, ihr Aufschub und auch dessen tatsächliches Ziel bleiben, so fragwürdig (im besten Sinne fragwürdig!), sind die Figuren, ist dieses London: Ist das wirklich hier und heute (also sagen wir 2012, da das Buch 2014 bei Matthes & Seitz erschien)? Sind das wirklich realistisch zu begreifende Menschen des 21. Jahrhunderts?
Einerseits beschreibt Kinskys Ich-Erzählerin ihre Streifzüge durch die Flusslandschaften Londons samt Industriebrachen sehr genau, äußerst detailreich und plastisch. Andererseits bleibt ein Element des Unerklärlichen, Unzeitgemäßen, als sei etwas leicht versetzt, verschoben. So lesen sich die Erinnerungen an den Rhein für mich als ganz in der Nähe Geborene und Aufgewachsen so, als würde ich in ihren Erinnerungen meine streifen – eben zugleich ein Stück wie von Fern und doch auf anderer Art sehr nah dran. Traumartig, so könnte man das vielleicht auch nennen.
Ihr Beschreibungen an sich sind großartig. Ich liebte es, lesend mit ihr zu reisen, ganz gleich wohin die Reise führt, ob es in ihren eingestreuten Erinnerungen an Flüsse geht, die ich kenne, wie eben den Rhein oder den St Lawrence Strom, oder sie in Indien unterwegs ist. Sie hat eine wirklich besondere Art, die Welt um sich herum wahrzunehmen und zu beschreiben, man versteht sofort, wieso ihre Erweiterung des Begriffs Nature Writing auf alle Umwelt, in der sich ein Mensch bewegen mag, schlüssig ist.
Außerdem fasziniert mich, wie sie das Fotografieren der Gegend dabei einsetzt und dafür eine Polaroidkamera benutzt (eine Parallele zur reisenden, fotografierenden Patti Smith, die einen eigenen Essay wert sein könnte):
„Unter der abgezogenen Entwicklungsfolie kam auf dem Schwerzweißfoto mit seinen unzähligen Grauabstufungen eine Erinnerung zum Vorschein, von er ich noch gar nicht gewußt hatte, daß ich sei besaß. Es waren Bilder von etas, das hinter den Dingen lag, auf die das Objektive gerichtet gewesen war und die der Auslöser einen unmerklichen Augenblick lang gestreift haben mußte. Die Bilder gehörten in eine Vergangenheit, von der ich allerdings nicht sicher war, ob es meine war, sie rührten an etwas, von dem mir der Name abhanden gekommen sein mochte, vielleicht hatte ich ihn auch nie gekannt.“
(Am Fluss, S. 26 f)
Das Paradox der Unzeitigkeit einer Fotografie, die eben nicht einfach Abbild ist, genauso wenig, wie eine Erinnerung eine immer wieder abspulbare Rückschau auf etwas einst genau so Gewesenes ist – ein Gedanke mit viel Nachhallpotenzial für jemand wie mich, die schreibt, malt, gelegentlich, fotografiert und obendrein auf vielfältige Art mit dem Film verbunden ist … oder es doch war.
Und die an einem „Familienalbum“ arbeitet, bei dem natürlich alte Fotos eine Rolle spielen. Ganz ähnlich bie Kinsky:
„Während ich eine Fotografie nach der anderen aus der Schachtel nahm und betrachtete, wurde mir zum ersten Mal klar, daß ich das, was darauf abgebildet war – meine Mutter, meine Geschwister und mich selbst, Brücken, Plätze, Alpengipfel, das blasse Licht der Landschaft Norditaliens im Frühling, Renaissancepaläste in Florenz, die Engel Frau Angelicos – mit den Augen meines Vaters sah. Das waren die kleinen Ausschnitte der Welt, zu denen er sich hinter dem Sucher seiner Kamera entschlossen hatte und die er sicher manchmal etwas verwundert betrachtete, weil sie ihn an etwas erinnerten, auf das die abgebildete Szene einzig und allein für ihn einen Hinweis enthielt.“
(Am Fluss, S. 63)
Es sei denn natürlich, dem Vater erging es beim Betrachten der Bilder wie der Ich-Erzählerin in der ztierten Szene zuvor. Doch der Grundgedanke, dass ein Foto zu betrachten nicht nur die Betrachtung dessen Gegenstandes sondern auch oder vielleicht sogar vor allem das Einnehmen des Blickwinkels des anderen bedeutet, ist ja noch eine andere Art der Verschiebung. Ich sehe, was du sahst, ohne zu wissen, was du dabei gedacht haben mochtest. Aber indem ich darüber nachdenke, komme ich dir näher. Die Fotografie und ihr Gegenstand wären dann so etwas wie der Spiegel in die Seeles des anderen, eben des Fotografen.
So viele wunderbare Denkanstöße liefert dieses Buch, so spannende lässt sich mit ihm reisen, während man doch gerade zuhause sitzt, so detailreich ist die Sprache, so treffend sind die Beschreibungen, dass es mir beinahe peinlich ist, die Stolpersteine darin zu benennen.
Der erste ist vielleicht gar nicht kritikwürdig:
„Vielleicht saßen sie auch bei Regen manchmal an der geöffneten Tür des Schuppens, tranken Tee aus Thermosflaschen und blickten auf die Insel, stets bemüht, die Rückker in die Stadt hinauszuzögern.“
(Am Fluss, S. 89)
Was denn nun: vielleicht oder stets? Natürlich kann sich die Ich-Erzählerin nicht sicher sein, spekuliert sie doch an dieser Stelle über Abwesend, auf deren sporadische Anwesenheit angesichts des Schuppens spekuliert. Aber für mich ist dieser Satz wie das Kreischen von Kreide auf einer Tafel.
Hinzukommt Kinskys für mich so unerklärliche wie unnötige Angewohnheit, teilweiser Wortneuschöpfungen: Was etwa gewinnt sie, wenn die Polizisten Menschen nicht mit einer herrischen, gebieterischen oder meintewegen dominanten oder großen Gebärde in eine bestimmte Richtung weisen, sondern sie das bei ihr dann mit einer „herrscherlichen Gebärde“ (S. 123) tun? Oder wieso brauche ich ein Wort wie „Mittelmeerischkeit“? An diesen Stellen, und leider sind sie streckenweise recht häufig, werde ich wieder und wieder aus dem Text geworfen. Das ist schade, denn ansonsten ist „Am Fluß“ ein höchst bemerkenswertes Buch.