Ein Sammelband von 1982, darin ein Dutzend Geschichten, in denen zumindest auf den ersten Blick wenig Spektakuläres erzählt wird, das sind gewissermaßen die Eckdaten von Alice Munros The Progress of Love. Allerdings bleibt mir diesmal nach dem Zuklappen des Buches nicht nur Gutes in Erinnerung.
Ausgerechnet das, was ich an Munros Erzählungen sonst so bewundere – die brillante Wahl des (Haupt)Erzählzeitpunktes und die subtile, oftmals komplexe und verschachtelte Zeitstruktur – gelingt in meinen Augen hier nicht immer: In „Circle of Prayer“ wirkt der zentrale Dreh- und Angelpunkt, das Werfen eines vom Ex-Ehemann selbstgetöpferten Kruges seltsam gestellt, als solle so künstlich Spannung erzeugt werden. Wenn man dann nach und nach erfährt, dass es darum geht, dass die Tochter ein Erbstück der Großmutter „wegwarf“ und das wiederum eingebettet wird in die Geschichte der Mutter und deren gescheiterten Ehe, erscheint die Konstruktion letztlich durchsichtig, beinahe billig – und was der namengebende Gebetskreis dem Ganzen hinzufügen soll, bleibt schleierhaft.
„White Dump“ springt nicht nur wild zwischen verschiedenen Erzählzeitpunkten hin und her, sondern wechselt dabei munter, aber selten nachvollziehbar zwischen Haupterzählerin Denise, ihrer Großmutter Sophie und ihrer Mutter Isabell – und das, ohne dass dadurch eine Mehrgenerationengeschichte entsteht oder auch nur ein großer Bogen geschlagen würde. Im Gegenteil: was als die Geschichte der erwachsenen Denise beginnt, die ihrem Vater und ihrer Stiefmutter einen Sommerbesuch abstattet, endet mit ihrer Mutter, die ihre erste Affäre hat, die das Ende ihrer Ehe herbeiführt – und ich frage mich, wer war hier nur Mittel zum Zweck, Mutter oder Tochter? Und hätte man nicht aus einem anderen Blickwinkel beziehungsweise mit einer durchdachteren, konsequenteren Struktur aus den drei Figurenperspektiven eine stimmigere Erzählung erreicht?
Im Gegensatz zu diesen beiden – und den anderen, hier unerwähnten weil eher unauffällig gestalteten Geschichten – begeisterten mich vor allem drei Erzählungen in diesem Band: „Monsieur les Deux Chapeaux“ zeichnet beinahe schüchtern Lebensgeschichte zweier ungleicher Brüder nach und überrascht mit einer ersten spektakulären, dann einer klugen zweiten Schlusswendung. „Miles City, Montana“ erzählt die Autofahrt einer kleinen Familie durch Kanadas Weiten und eine Beinahetragödie inklusive der Folgen, die das im Innenleben der Mutter, die zugleich die Ich-Erzählerin ist, hinterlässt: wer schon einmal eine kleinere oder größere Katastrophe überstanden hat bzw. einer solchen entronnen ist, fragt sich oft hinterher, was wäre, wenn es nicht so glimpflich/schlimm/anders abgelaufen wäre? Und nicht selten wird diese Frage, das Nichtwahrgewordene zu einer Obsession, zu einem übermächtigen Schatten gar, der am Ende das Leben dann doch in eine andere Bahn lenkt – als seien wir vielleicht in der Lage, des Lebens Unbill zu überwinden, jedoch nicht uns selbst und unsere Ängste, Gedankenkarussels hinter uns zu lassen.
Und schließlich mein Favorit „Fits“, in dem es eher ums Gegenteil dessen geht: Eine ganz normale Frau in einer ganz normalen, kleinen kanadischen Stadt findet eines Morgens ihre Nachbarn tot in deren Haus. Doch nicht der Mord/Selbstmord ist der Skandal, der das Leben der Frau und der anderen Menschen in der winterlich-verschneiten Gemeinde auf den Kopf stellt, sondern die Tatsache, dass die Frau rational und ruhig reagiert: Sie fährt zur Polizei und geht danach schlicht ihrem Alltag nach. Sie klatscht nicht, weder ihre Familie noch ihre Kollegin und Freundin oder die Nachbarn erfahren vom Doppelmord von ihr, aus erster Hand, sondern über die mäandernden Wege, die die Gerüchteküche stets irgendwie zu nehmen pflegt. Erst am Abend und nur weil sie, wie sie selbst sagt, annimmt, dass er es von ihr erwartet, erzählt sie ihrem Mann mehr darüber, wie sie die beiden Toten fand. Schon das führt zu einer seltamen, innerlichen Entfremdung beim Mann – erst recht, weil er im Gegensatz zu Nachbarn und Bekannten, die ihre Reaktion mit einem Schock erklären, nicht an diesen glaubt. Vielmehr erlebt er seinen eigenen Schock, wenn er ganz am Ende von einem der Polizisten ein gewisses Detail erfährt, das ich an dieser Stelle jedoch nicht verraten möchte.
Allein für diese drei Erzählungen hätte sich der Band gelohnt, zumal, wie gesagt, die restlichen Geschichten als solche gut zu lesen sind. Wäre da nicht immer wieder der Zeitgebrauch, der mir diesmal aufstößt, mich wiederholt erst ins Straucheln, dann ins Grübeln bringt: Wieso Präsens – Präsens für allgemeine Aussagen in Geschichten, die in der 3. Person im Präteritum erzählt werden oder gar Präsens als einzige, schwache Markierung einer anderen Zeitebene der Erzählung, gar einer Vorvergangenheit? Da hakt es für mich, das erscheint mir unnötig, unschön auch. Aber aufs Ganze gesehen und im Vergleich mit anderen Autoren muss ich dennoch sagen, das ist allemal Krittelei auf hohem Niveau — und vielleicht schlicht ein Hinweis, dass ich eine Munro-Pause einlegen sollte. Vorübergehend, natürlich. Und, wer weiß, vielleicht mach ich dann doch beim nächsten Mal mit ihrem einzigen Roman weiter …