Am nächsten Morgen nahmen wir eine Tram Richtung Altstadt, um Josefov, das alte jüdische Viertel in der Josefstadt zu besuchen. Die Klausen Synagoge, sonst üblicherweise der Ausgangspunkt für solche Besuche, ist derzeit wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, also starteten wir mit der Pinkas Synagoge, die im 16. Jahrhundert erbaut wurde und heute als Shoah-Gedenkstätte dient.

Die Namen der aus der Tschechoslowakei verschleppten Juden bedecken jede Wand im Erdgeschoss – was auf den ersten Blick schlicht erscheinen mag, hat eine starke Wirkung, zeigt sich doch im Kontrast der Größe der Wandflächen und der kleinen Schrift, die es braucht, um Platz für alle Namen zu haben, die Dimension der Ungeheuerlichkeit und Unmenschlichkeit dahinter. Gerade weil es schlechterdings unmöglich ist, bei einem einzigen Besuch die Namen aller Opfer auch nur zu lesen, vermittelte es mir das Gefühl, mitten unter ihnen, die gewaltsam aus ihren Leben gerissen wurden, zu stehen, wie umgeben von ihren Geistern und Geschichten zu sein.
Die Namen sind geordnet nach den Orten, zu denen man sie verschleppte. Bei den Menschen, die man nach Treblinka brachte, fragte ich mich unwillkürlich, wer von ihnen ist dort meinem Großvater begegnet, der bis 1943 in Malkinia am Bug (Malkinia Gorna) angeblich beim Zollgrenzschutz stationiert war. Ein Gedanke, der noch immer nachhallt und über den ich an anderer Stelle schreiben werde, wenn ich es besser fassen kann.

Unser Weg führte an diesem Tag irgendwann wieder hinaus aus der Pinkas Synagoge (in die in diesem Moment mehrere Besuchergruppen strömten) und raus auf den alten jüdischen Friedhof mit all den Grabsteinen der vergangenen Jahrhunderte, darunter denen vieler berühmter Menschen wie etwa Rabbi Löw (1520 – 1609), der als Schöpfer der Golem gilt, oder Astronom David Gans (1541 – 1613). Bis heute werden hier zum Gedenken Steine abgelegt. Die Ruhe zwischen Steinen und Bäumen blieb spürbar, wenngleich hier zahlreiche Menschen gleichzeitig unterwegs waren.


Geschichte und heutiges Leben, Touristenströme und Spiritualität, all das kommt mir auch in den Sinn, wenn ich an den anschließenden Besuch der Altneusynagoge denke. In der frühgotischen Staronová Synagoga, der ältesten, unzerstörten ihrer Art in Europa, werden bis heute Gottesdienste abgehalten. Auf eine gewisse Weise fühlte sie sich für mich wie ein ‚Bruderort‘ zur Georgsbasilika in der Burg an – ein äußerlich schlichtes Gebäude, in dem man die Gebete und Gesänge, all die Menschen, die hier ihren Glauben lebten und leben, zu spüren meint. Und meine Kinderseele, die schon immer die Geschichten über den Golem geliebt hat, wäre nur zu gern nachschauen gegangen, ob oben auf dem Dachboden der Synagoge wirklich seine Überreste liegen (aber immerhin waren wir später im Café Golem, um köstlichen Kuchen zu verspeisen :)).






Für mich war es neu, in einer Synagoge zu stehen, die als Gotteshaus genutzt wird und somit ein spiritueller Ort für Gläubige ist und das ausstrahlt. Ich kannte bisher vor allem die Alte Synagoge in Essen, die heute das Haus der jüdischen Kultur ist und sich für mich wie ein Museum anfühlt – ganz ähnlich wie die Karlskirche in Wien, die kulturgeschichtlich und künstlerisch sicher interessant ist, der aber das ’spirituelle Etwas‘ fehlt. Das wiederum scheint gar nicht so sehr an der aktuellen Nutzung eines solchen Ortes zu hängen, denn auch in der Maisel Synagoge mit der Ausstellung über die Geschichte der Juden in Böhmen und der Spanischen Synagoge mit ihrem farbenprächtigen Inneren im maurischen Stil und der Textilausstellung, die heutzutage rein museale Funktionen haben, ist diese besondere Atmosphäre noch spürbar. Als ob man sich an einem Ort befindet, an dem man dem, was alles mit allem verbindet, näher ist als an anderen.

Viele andere Menschen dagegen begegneten uns im restlichen Verlauf des Tages. Auf dem Rathausplatz in der Altstadt strömten uns die Massen entgegen, sodass wir uns ins alte Rathaus flüchteten und dort einer englischsprachigen Führung anschlossen. Anscheinend gibt es in dieser jahrhundertealten Stadt zwei Möglichkeiten, Revolutionen, Kriege und Umstürze verschiedenster Art auszulösen: man wirft Abgesandte aus Fenstern der Burg beziehungsweise des Rathauses der Neustadt, oder der Stadtrat einigt sich auf einen Entwurf zum endgültigen Weiterbau des Rathauses in der Altstadt. Ich wünschte, ich hätte mir alles merken können, was uns bei dieser Führung so voller Begeisterung erzählt wurde … so bleibt mir das Gefühl, die Prager Stadtgeschichte ein wenig gestreift zu haben und der Wunsch, mehr über sie zu erfahren.




