Seit Juli läuft die aktuelle Lesereihe „Ferngespräch“ des Literaturgebiet Ruhr, bei der in wechselnden Städten des Ruhrgebiets eine Autorin ‚von hier wech‘ mit einer Kollegin von außerhalb zusammentrifft und auf der Bühne ein literarischer Austausch beginnt. Letzten Mittwoch begegneten sich so Marion Poschmann mit „Chor der Erynnen“ und Anja Liedtke mit „Der Himmel ist altes Silber“ in Essen. Wobei dieses Gespräch über Nature Writing nur bedingt ein Fernes war, schließlich kommen beide Autorinnen ursprünglich aus dem Ruhrgebiet (aus Essen bzw. aus Bochum), bloß lebt Poschmann inzwischen in Berlin …
Genug der Vorrede. Mir ging es ja weniger um Herkunfts- oder andere Ortsfragen, sondern ums Nature Writing, diese zugleich gerade recht moderne und doch nach wie vor schwer zu greifende Literaturgattung und die Frage, wie gehen diese beiden preisgekrönten Autorinnen damit um?
Beide schreiben Lyrik und Prosa, das ist schon mal eine Parallele, Poschmann auch Essays – wobei meiner Erfahrung nach insbesondere im Nature Writing die Grenzen fließend sein können. Doch während sich Liedtke glücklich von Plot & Figurenentwicklungen, also den Erfordernissen romanhaft erzählender Prosa befreit hat, und nurmehr ausschließlich mit ihrer Wahrnehmung der Natur arbeitet, bleibt die Natur bei Poschmann Teil der Geschichte im Roman bzw. eingebettet ins Argument des Essays und scheint nur in der Lyrik ähnlich frei wie bei Liedtke.
Das soll keine Bewertung sein, sondern nur eine Beobachtung. Poschmann las zunächst Auszüge aus „Laubwerk“, einem poetischen Essay über Stadtbäume, in dem diese zum Symbol des Klimawandels werden und zugleich Anzeiger kultureller Unterschiede sind. Gewitzt, mit Blick fürs Detail, voller Bezüge zwischen Mensch und Natur, ein Betrachtung aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel, auf den ich so nie gekommen wäre, schlicht wunderbar beschreibt, erzählt, argumentiert Poschmann hier! Die Auszüge aus dem „Chor der Erynnen“, die später zu hören waren, hatten den für meine Ohren typischen Poschmann-Sound, einerseits nah an der Figur und doch mit einem gewissen Staunen geschrieben, was andererseits genügend Abstand einräumt, um das Absurde im Alltag sichtbar werden zu lassen. Mich verlockt das jedes Mal, und irgendwann werde ich es schaffen, werde endlich meine Lesestapel ignorieren und mich auch diesem Buch von ihr hingeben.
Anja Liedtke könnte mich dazu verführen, ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten zum Hörbuch greifen zu lassen – oder, noch besser, Lesungen ihrer Werke als Videos zu erwerben. Wie sie ihre Texte vorträgt, muss man einfach gehört und gesehen haben. Sie liest nicht nur hervorragend, sie lebt den Text förmlich auf der Bühne. Ob das eine direkte Folge ihrer sehr ungewöhnlichen Art des Schreibens ist? Sie begibt sich in die Natur, versucht, sie mit allen Sinnen zu erfahren und das dann in Worte zu fassen – was naturgemäß unmöglich ist, da man in jeder Sekunde mehr wahrnehmen kann, als man so einfangen kann und das zugleich immer noch nur ein Bruchteil dessen ist, was da ist, was wahrzunehmen wäre. Sie wählt einen Weg radikaler Unmittelbarkeit und ebensolcher Reduktion, denn sie prägt sich ein, was sie sieht, hört, riecht, fühlt, womöglich schmeckt, und lernt es auswendig, noch während sie ‚draußen‘ ist. Auf diese Art zu schreiben wäre ich allein nie gekommen – ich habe schon mal in einem übervollen Bus stehend zwei Akrostichons auswendig gelernt, um sie dann bei nächster Schreibgelegenheit zu notieren, aber das war eine absolute Ausnahme und rein den Umständen geschuldet -, aber ich finde diesen Ansatz genau wie die Ergebnisse, zu denen er Liedtke führt, faszinierend.
Dennoch weiß ich nicht, ob ich „Der Himmel ist silber“ und „Von Hängen fallen“ tatsächlich lesen werde. Ein bisschen scheue ich mich, weil ich mich frage, wird mir ihre Stimme, ihr Vortrag fehlen und wird das dann womöglich die Texte beschädigen (was für ein seltsamer Gedanke). Und ein wenig spiegelt sich darin ein allgemeines Problem, das mich gelegentlich beim Nature Writing stolpern lässt – wie wähle ich aus, ob beim eigenen Schreiben oder beim Lesen – was bildet die Klammer, den Bogen, den Ablauf?
Verrückt. Ich kann Liedtkes glückliches Strahlen als sie erzählte, wie sie sich von Plot und Figurenentwicklung befreite, so gut nachfühlen. Da sprach sie mir geradezu aus dem Herzen. Aber wie komm ich selbst dahin? Vielleicht sollte ich einfach eine Münze werfen und dann beherzt das Buch von ihr bestellen, auf dessen Seite sie fällt. Oder in der Insel der Bücher vorbeischauen, der Holsterhauser Buchhandlung, die die Lesung am Mittwoch begleitete und leider Liedtkes „Himmel“ nicht auf dem Büchertisch hatte, da dieses Buch unterwegs in der Lieferekette hängengeblieben war.