Magisch: „Die Gouvernanten“

Einfach bezaubernd ist Anne Serres kurzer Roman „Die Gouvernanten„, so eigen, schön und einnehmend, dass ich lesend die 92seitige Übersetzung von Patricia Klobusiczky erst verschlang, dann mich bewusst einbremsend auf jeder dritten Seite etwas Wunderbares hätte unterstreichen mögen, gegen Ende das Büchlein tagelang nicht mehr anfasste, um das unvermeidliche Erreichen der letzten Seite herauszuzögern. Liebend gern wäre ich mit den drei Gouvernanten noch viel länger, vielleicht auf immer in dem großen Haus im Park geblieben.

Das Cover von Anne Serres Roman "Die Gouvernanten" im Schatten von Blumen auf einem Holzfußboden
Liest sich wie von einer Fee mit eigensinnigem Humor verzaubert: „Die Gouvernanten“ von Anne Serre

Selbstverständlich dürfen sie ausgehen. Aber wohin? Sie haben weder Familie noch Eltern und auch so gut wie kein Vorleben, denn das alles starb an dem Tag, als sie in den Dienst von Monsieur und Madame Austeur traten. An diesem Tag mussten sie alles hinter sich lassen. Und das ging so: Die Bäume aus ihrem Schulhof, zum Beispiel, die Bäume ihrer Großeltern und die am Rand der Straße, die sie zum Strand führte, all diese Bäume und auch sämtliche andere sind in den Park von Monsieur und Madame Austeur gestürmt, um sich an die Ulmen und Eichen zu schmiegen, mit ihnen zu verschmelzen und in ihnen aufzugehen.

Anne Serres, Die Gouvernanten, Berenberg, 3. Auflage 2024, S. 12

Den Gouvernanten geht es schließlich ähnlich, auch ihnen reicht dieser Park als Welt und, das was die Welt draußen gelegentlich an „Fremden“ für einkurzes Abenteuer, einen wilden erotischen Moment hereinspült. Weder sie noch die Dienstmädchen oder auch der greise Herr, der auf der anderen Seite des Parks lebt und das Treiben bei ihnen beobachtet, scheinen auch nur das Bdürfnis zu verspüren, fortzugehen, und die kleinen Jungen hängen ohnehin sehr an den dreien. Daran kann auch Madame Austeur nichts mit ihren gelegentlichen Versuchen ändern, geeignete Heiratskandidaten für sie zu finden, denn sie wollen sich nicht trennen, nicht voneinander und nicht von diesem Ort:

Warum sollten sie auseinandergehen? Um zu leben? Und wo? In einem Haus, in dem mehr Trubel herrscht als hier? Aber auch dort würde jemand die Züge von Monsieur Austeur annehmen, jemand anderes die des greisen Herrn, der Fremden, der Heiratskandidaten … Überall dasselbe Gartentor, überall derselbe Park, überall dieselbe Welt, gewoben aus denselben Fäden, die ein bestimmtes Gesicht mit einer geheimen Kammer verbinden, ein anderes Gesicht mit einer zweiten Kammer, eine Welt voller unvergesslicher Szenen, die dennoch vergessen sind.

Serres, Die Gouvernanten, S. 55

Paradox, geheimnisvoll und eigenartig melancholisch, dabei durchzogen von einem feinen, ganz besonderen Humor, so erzählt Serres ihre Geschichte, die sich überweite Strecken wie ein Märchen für Erwachsene liest. Alles ist, was es ist, nichts wird erklärt – alles ist selbstverständlich und doch gänzlich unerklärlich. Vielleicht ist der Park, in dem sie alle leben, eine Art Zauberwald, könnte man sich lesend fragen. Vielleicht schaffen die Gouvernanten es deshalb nicht, auch nur eines ihrer Vorhaben – Hebräisch zu lernen oder Latein, sich mit Botanik zu befassen oder dergleichen – länger als ein paar Tage lang zu verfolgen?

Als wäre die Achse, nach der sie streben, um ihrem Leben eine Struktur zu geben, ohne ihr Zutun bereits vorhanden, aber so tief vergraben, so unsichtbar, dass sie niemals durch überlegtes Vorgehen dorthin gelangen, sondern nur durch eine Art Selbstaufgabe.

Die Gouvernanten, S. 77

Gelegentlich verlassen die Gouvernanten den Park zumindest, um lange Wanderungen zu unternehmen. Und als verließen sie eine Zauberblase, wird dann ihr Alter für sie kurz spürbar, es gibt ungenannte Dinge, die sie nicht mehr tun, weil sie keine zwanzig mehr sind. Aber nackt auf Bäume klettern und im eiskalten Wasser baden, das tun sie schon noch — und Serres beschreibt das (wie alles andere in dem kurzen Buch auch) so bildhaft, dass man es ihnen am liebsten gleich nachtun möchte:

Natürlich kletterten sie nackt auf Bäume! Sie wollten unbedingt die raue, körnige Haut der Stämme an ihren weichen Brüsten, weichen Bäuchen, weichen Schenklen spüren. Und nackt badeten sie auch im eiskalten Wasser, das ihr Herz zum Hüpfen brachte. Wenn das Wasser ihnen bis zum Hals reichte, schlossen sie die Augen, und ihre Körper flogen, wie narkotisiert, über sie hinweg, zum Himmel empor, wurden Teil des Firmaments. Zurück blieb nur ihr Kopf, der wie eine Seerose auf dem Wasser ruhte.

Die Gouvernanten, S. 81

Die Körper, die über sie hinwegfliegen und Teil des Sternenhimmels werden, was für ein Bild! Am liebsten würde ich sofort zu zeichnen beginnen, meine Kreiden oder Tuschen hervorziehen und die Bilder, die Serres Roman in meinen Kopf zaubert, auf Papier bannen. Und so sehr ich es dem Buch und seiner Autorin gönne, dass es derzeit in Hollywood verfilmt werden soll, Film ist nicht die erste andere Kunstform, an die es mich denken lässt. Eine Graphic Novel, das wäre die Verwandlung, die ich ihm wünschen würde. Obwohl, vielleicht sollte ich doch hinuntergehen, meine Farben hervorholen und loslegen …

Dieser Beitrag wurde unter Schreibkram abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert