Gewiss, ich weiß auch, man soll ein Buch nicht nach seinem Cover beurteilen, aber diese Frau mit der wilden Mähne voller säbelklingenartiger Spitzen, auf denen (für mich) nicht entzifferbare Notizen stehen, diese Frau, von der nur die Augen mit dem wachen Blick ausgeleuchtet sind, der Rest bleibt im Schatten, die muss man einfach anschauen. Und wenn man ihr schon in die Augen geblickt hat, nun, dann bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als das Buch in die Hand zu nehmen, aufzuschlagen und sich sogleich lesend in die Welt von Slata Roschals „153 Formen des Nichtseins“ zu begeben.
Das Buch zu lesen, ihm durch die 153 Miniaturen zu folgen, in denen Ksenia, die Frau mit den vielen Identitäten – sie ist Russin, Deutsche. Jüdin, unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, Frau und junge Mutter, noch vieles mehr und nichts davon – , aus ihrem Leben erzählt, ist leicht. Ich jedenfalls konnte mich dem Sog der Sprache genausowenig entziehen wie dem der Figur, und kam nicht umhin, immer wieder Aspekte des eigenen Lebens mit Roschals adleräugigen Alltagsbeobachtungen, diesem unbedingten Willen, wahrhaftig beim Eigenen zu bleiben, nichts zu beschönigen, nichts zu glätten oder süffiger zu machen, zu vergleichen. Als ob es Pflastersteine wären, die zusammengefügt einen Lebensweg ergeben oder Fotos in einem Familienalbum, Bruchstücke, Teile, die sicher nicht das Ganze sind, es auch nicht sein können oder wollen, es aber wunderbar vielfältig aufscheinen lassen wie in einem Kaleidoskop.
Vielleicht muss man Literaturwissenschaftlerin sein, um in Slata Roschals Romandebüt eine starke Spur, ein gar nicht mal so fernes Echo von Lawrence Sternes „The Life and Opinions of Tristram Shandy“ wiederzufinden? In beiden Büchern dreht sich alles um den Versuch, das eigene Leben zu erzählen und so zu begreifen, ein bei Sterne absurd scheiterndes, in beiden Fällen höchst skizzenhaftes, oft auch collagenartiges Unterfangen, bei dem ‚Fremdmaterial‘ in den eigenen Text eingebaut, auch mal gezeichnet oder eine Leerstelle gelassen wird.
„Nichts ist Tatsache“, heißt es etwa bei Roschal unter 56. (S. 69). „- alles passiert indem davon erzählt wird, erst beim Erzählen passiert es. Je länger die erzählung dauert, desto mehr enthüllt sich ein roter Faden, der Geburt mit Tod verbindet. Ich glaube fest daran, dass ich entwederdurch einen Autounfall oder durch Krebs oder durch Suizid sterben werde, und überlege, ob ich eine Chemotherapie machen würde. Solange ich diese drei Möglichkeiten fest in der Hand halte, solange ich über meinen Tod Bescheid weiß, wird es keine Angst geben. Nur vor Hunden habe ich Angst, ihre Gestik ist rätselhaft, ihr Angriff nicht abzuschätzen, ich weiß nicht, ob und wie sie auf mich springen, worauf ich mich vorbereiten kann.“
Großartig, wie das Allgemeine und Große bis hin zum Versuch, den eigenen Tod und die Angst zu besiegen, hier in der alltäglich und klein anmutenden Angst vor Hunden mündet. Ich glaube nicht, dass man Dichterin sein muss, um so genau hinzuschauen, aber ich stelle mir vor, dass es hilft. Genau wie es vermutlich geholfen hat, Lyrikerin und zumindest der Fähigkeit nach Übersetzerin zu sein, um diese wunderbar traurig-wahr-komische Szene am Ende von 85. zu schreiben, deren Anfang ich mangels kyrillischer Zeichen (also mangels meiner Fähigkeit, die richtigen kyrillischen Zeichen an dieser Stelle aus meiner Tastur herauszulocken), nur „berichten“ kann. Die Erzählerin dolmetscht für traumatisierte Patienten beim Therapeuten, hier für einen Mann, einen Familienvater, und nach dem Spiegelstrich, der seiner ersten wörtlichen Äußerungen vorangeht, stehen drei kyrillisch geschriebene Worte:
Slata Roschal, 153 Formen des Nichtseins, S. 98
- […..] sagt der Patient. Mir geht es schlecht.
- Mir geht es schlecht, übersetze ich, Ich bin traurig,
- Warum sind Sie denn traurig, fragt der Therapeut.
- Glauben Sie, dass Gott gegen Sie ist, übersetze ich.
- Wenn ich das wüsste, sagt der Patient, Ich weiß nicht, warum er das zulässt.
- Wie kann ich es nicht sein, übersetze ich.
- Sie haben vier Kinder, eine Frau, Sie sind am Leben, sagt der Therapeut.
- Sie haben vier Kinder, eine Frau, Sie sind ein guter und tapferer Mann, übersetze ich.
- Danke, sagt der Patient.
- Vielleicht, übersetze ich.
Was soll man dem hinzufügen, was lässt sich anderes dazu sagen als ‚vielen Dank für die Beobachtungsgabe, die Worte, das Hinschauen, das Ausdrucksuchen und -finden‘? Vielen Dank für das Labyrinth aus Identitäten und Rollen, aus Erwartungen und Befürchtungen, und dazu den ganzen Kampf ums Sein, Seindürfen, Seinkönnen, Seinwollen, Sichnichtmehrscherenmüssen um die Vorstellungen der anderen, all diese fremden Blicken aufs Selbst, die frau viel zu oft viel zu nah an eben dieses Selbst heranlässt, bis sie Teil davon geworden sind, vielen Dank für all die Szenen, Bilder und Gedanken, in denen ich Ksenia wie mich selbst lesend verlieren und wiederfinden kann.
Wie gesagt, das Buch zu lesen, ist der leichte Teil. Darüber zu schreiben war schon schwieriger. Und die spannendste Aufgabe steht mir noch bevor: die Verleihung des Literaturpreises der BücherFrauen für „153 Formen des Nichtseins“ an Slata Roschal nächste Woche zusammen mit Silke Weniger zu moderieren.