Vor über einem Monat legte ich los, um mit meiner „Viererbande“ über vier Bücher zu schreiben, deren Lektüre ich gerade beendet hatte, und jetzt erst komme ich zum vierten und dicksten Buch: „Essays Two“ von Lydia Davis kommt immerhin auf 568 Seiten, prallvoll gefüllt mit klugen und anregenden Gedanken. Was natürlich auch heißt: Selbst oder gerade erst recht nach der langen „Wartezeit“ kann ich leider mit meinen Gedanken dazu die Fülle von dessen Inhalt allemal an der Oberfläche streifen …
Um zwei große Themenkomplexe kreisen die Texte darin, nämlich ums Übersetzen und ums Lernen von Fremdsprachen. Das klingt auf den ersten Blick vielleicht recht technisch und trocken, ist es aber ganz und gar nicht. Schließlich ist Lydia Davis nicht nur eine Expertin, sie liebt ihre Arbeit als Übersetzerin nicht weniger als die als Autorin und sie liebt Sprache(n) wie das Lernen.
So spielt es auch keine Rolle, ob man ein Fan von Marcel Proust und seinem „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist oder wie viel man etwa mit „Madame Bovary“ von Flaubert anfangen kann. Vermutlich ist es sogar unwichtig, ob man selbst je versucht hat, auch nur einen kleinen Alltagstext zu übersetzen – Lydia Davis‘ Überlegungen zum Übersetzen an sich, bei dem ja mit der Sprache auch kulturelle Kontexte und Zeithorizonte mit übertragen werden (müssen), dürften für alle, die gern lesen und/oder schreiben, potenziell interessant sein.
Ich war erst einmal verblüfft, in diesem Buch einen kleinen Schwerpunkt „Translating from English into English“ zu finden. Dabei beschäftigt sie sich u.a. mit klassischen Kinderbüchern und der Frage, ob und wenn ja wie man deren Sprache und Ausdrucksweise modernisieren könnte oder sollte, damit sie auch heute noch gelesen und verstanden werden können. Und sie zeichnet in „From Memoir to Long Poem“ den Prozess nach, in dem sie aus den Memoiren ihres Vorfahren Sidney Brooks aus dem 19. Jahrhundert ein langes, erzählendes Gedicht macht. Dabei stellt sie fest:
Whereas Sidney Brooks was consistently and beautifully precise about the thing, he was not reticent about his feelings, a quality that I admired in him and retained in the verse. He had a vocabulary full of specifics, but he also employed such general words as lovely, beautiful, and sweet.
Lydia Davis, From Memoir to Long Poem, in: Essays Two, p. 205
Und ich stelle wieder einmal fest, bevor man lesen oder auch übersetzen kann, muss man genau hinhören, genau lesen, eben sehr bewusst auf die Sprache und ihre Nuancen achten.
Wie schnell das wohl möglich ist, wenn man sich darauf einlässt, Fremdsprachen so zu lernen wie Lydia Davis es mit dem Niederländischen und ganz besonders dem Norwegischen gemacht hat? In „Reading Dag Solstad“ zeichnet sie nach, wie sie diese Sprache allein dadurch lernt, dass sie ohne jede Vorkenntnis, ohne Wörterbuch oder gar Grammatik, indem sie seinen Telemark Roman einfach liest – Wort für Wort, beinahe wie ein gigantisches Kreuzworträtsel und sich die Sprache so Schritt für Schritt erschließt. Anfangs klingt das Vorhaben schier verrückt – sie will das 426-Seiten-Buch unbedingt lesen, ist sich aber sicher, dass es nie übersetzt wird -, selbst wenn man bedenkt, dass es sich hier um eine sehr sprachbewusste und -begabte Frau handelt, die neben Englisch und Französisch nicht nur etwas Spanisch spricht, sondern in der Schweiz eingeschult wurde und sich selbst Niederländisch beibrachte. Dann erzeugt ihr Bericht über dieses Leseabenteuer einen solchen Sog, dass man sich am Ende fragt, ist das nicht vielleicht die bessere Art, eine Sprache zu lernen – indem man etwas liest, was man wirklich lesen will, anstatt Kurse zu besuchen und anhand von Beispielsätzen, die man im Leben nicht gebrauchen würde?
Mich hat sie inspiriert, mir ein niederländisches Buch von Hella S. Haasse zu wünschen. Ich bin gespannt, ob meine eigene Sprachabenteuerlesereise mich genauso in den Bann schlagen wird wie Davis‘ Bericht über die ihre.