Schreibhaltungen

Manchmal nervt mich dieser Körper gewaltig – etwa, wenn er mich mal wieder keine Haltung finden lässt, in der Schreiben einigermaßen schmerzfrei möglich wäre. Ein Problem, das durch die Fuß-OP samt Nebenwirkungen (ich bin nicht fürs Sofasitzen gebaut und menschliche Hüften spürbar nicht fürs dauernde Hochlegen der Füße) ganz sicher nicht besser wird. Aber ist das auch ein Grund, den Stapel ausgelesener, aber unbeschriebener Bücher weiter anwachsen zu lassen?

Ryunosuke Akutagawas Erzählband „Rashomon“ fand bereits vor einem knappen Jahr als von Patti Smith und meiner Filmvergangenheit inspiriertes Geburtstagsgeschenk seinen Weg zu mir. Über 450 kleinbedruckte Seiten mit zahlreichen Geschichten, die Einblicke ins Japan des frühen 20. Jahrhunderts geben. Fernöstliche Tradition und Kultur trifft auf westliche Moderne. Unveränderlich Geglaubtes verändert sich, während an anderem festgehalten wird, und für den Blick einer Westeuropäerin des nun 21. Jahrhunderts ist manches überraschend nah. Nicht zuletzt, weil nicht zu leugnen ist, das Motiv der Veränderung, ob man sie begrüßt oder bekämpft, ist paradoxerweise (oder auch nicht, betrachtet man es philosophisch oder aus einer buddhistisch inspirierten Haltung) ein Bleibendes.

Veränderung als Ziel wie als Haltung, ich glaube, das wäre etwas, das May Ayim als afrodeutsche Aktivistin wie als Dichterin unterschrieben hätte. Ihre Wortgewandheit wie ihre Lust am Sprachspiel ist untrennbar verknüpft mit ihrem scharfen Blick für das, was andere lieber übersehen. Gleich zu Beginn des Doppelbandes zeigt sich das im Gedicht „am anfang war das wort“:

am anfang war das wort
geistreich
jedoch vorschnell ausgesprochen
prompt
kam ein widerwort

es ward licht
doch durch den widerspruch
gab's einen kurzschluss
wodurch
sowohl das wort
als auch das widerwort
zerplatzte:


Und dann geht’s weiter mit den Buchstaben, die herausplatzen und sich streiten, und den Wörtern, die aus ihnen entstehen, und am Ende heißt es lakonisch:

verhängnsivoll und peinlich 
ist auf erden
daß die paar worte 
die gänzlich 
ohne sinn
sind
am häufigsten gesprochen 
werden

Manchen Gedichten merkt man die Zeit an, was aber auch daran liegen könnte, dass die 1980er und 1990er die Zeiten sind, in denen ich mich, zehn Jahre oder so jünger als Ayim, ganz ähnlich, wenngleich von anderem Ausgangspunkt, in der Welt umzusehen begann, in der die BRD Gesamtdeutschland wurde, in diesen Zeiten, in denen sich einerseits so viel änderte, so viel passierte (was Ayim gekonnt aus Korn nimmt und in Worte fast, denen man nicht so leicht entrinnt), andererseits zu vieles auch blieb, wie’s war, aber insgesamt doch so manches beim Lesen für mich etwas von persönlichem Wiedererinnern und auch Wiedererkanntwerden hat — was sich manchmal so seltsam, ja unerträglich nah anfühlt, wie eigene Tagebücher wiederzulesen.

Unträglich, das könnte etwas sein, das Aktugawa und Ayim miteinander verbindet, denn beiden nahmen sich selbst das Leben. Ich weiß nicht, ob man sagen kann, sie schieden freiwillig daraus oder ob es heißen müsste, sie scheiterten zu schmerzlich an etwas, sei es die Haltung der anderen, ein Anspruch an sich selbst oder ob es keine Rolle spielt, weil es ja nun mal ihre jeweilige Entscheidung war. Aber der Gedanke drängt sich schon auf, dass die Welt klarer zu sehen als die meisten anderen, nicht unbedingt dazu führt, dass man ein langes, glückliches Leben führt.

Melancholie bis Todessehnsüchte, all das findet sich auch in dem kleinen Band der Insel-Bücherei, der sich „Die schönsten Herbstgedichte“ nennt. Ihn kaufte ich Ende November auf der Suche nach einem Avdentgeschenk für meine Eltern, befand das Ganze dann jedoch für zu morbide für diesen Zweck. Und doch, nicht nur wegen der wunderbaren Illustrationen liest sich das Buch wie ein Spaziergang durch den Herbst, bei dem die Füße Laub aufwirbeln. Das riecht ja auch zugleich frisch und etwas modrig, eben morbid, könnte man sagen.

Und jetzt sind wir mitten im Frühling, alles sprießt, Ostern steht vor der Tür, und im Osten Europas herrscht Krieg. Welche Haltung beim Schreiben wäre da wohl die richtige?

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