Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst

Vor einer kleinen Weile hat das ZEITMagazin Reiner Kunze in der Rubrik „Das war meine Rettung“ interviewt. Darin zitierte Kunze ein ungemein berührendes Gedicht und es wurde auf den aktuellen Gedichtband „die stunde mit dir selbst“ verwiesen. Ich entsorgte die Zeitung im Altpapier und besorgte mir bei nächster Gelegenheit das Buch. Und nun sitze ich hier mit gemischten Gefühlen … … denn zu meinem großen Erstaunen stellte ich beim Lesen fest, wie unterschiedlich die Gedichte darin auf mich wirken.

Helsinki,

im Morgendämmer entschwindend

Vom mastenhohen schiff legt ab

die stadt, der kai beginnt

zu schwanken

 

auf dem esplanadendeck

möwenumwölkt,

Finnlands tote dichter

Die Bilder darin sind plastisch, hypnotisch gar. Aber während in der ersten Strophe der Rhythmus für mich funktioniert, bricht er in der zweiten Strophe einfach ab. Als fehle da etwas, als seien die Dichter ins Hafenbecken gefallen womöglich. Ob das wohl anders wäre, hörte ich Reiner Kunze selbst den Text vortragen? Für mich allein passt das weder laut noch stumm gelesen. Und das ist beileibe nicht das einzige Gedicht in diesem Bändchen, immer wieder lassen mich die letzten Verse wie abgebrochen in der Luft hängen.

Wie anders dagegen bietet sich mir etwa folgendes Gedicht dar:

Paul-Celan-Gedenktafel

(ehem. Wassiliko-Gasse, Czernowitz)

Das aufgeschlagene buch –

ein flügelpaar im flug,

eine welle vom spiegel der Seine,

als das leben er nicht mehr ertrug.

 

Das aufgeschlagene buch im flug

über, o über dem dorn

Der stein hat zu blühen sich nicht bequemt,

die welle glättet den zorn.

Symmetrie, Rhythmus, Bilder, Melodie, alles verbindet und verwebt sich zu einem Ganzen, das berührt. Und auch das Zitat passt, während mich an anderen Stellen in diesem Band andere Zitate häufig eher abstießen bzw. mir als prätentiöser Tand und bildungsbürgerliches Pfand aufstießen.

Ein seltsam holpriges Abenteuer war und ist es, diesen Band zu durchstreifen. Älterwerden, Altsein als Thema von Lyrik, das berührt an vielen Stellen. An anderen stehe ich themenunabhängig ratlos vor den kleingeschriebenen Worten und weiß nicht, was soll ich damit. Und dann auch noch das Erschrecken, als ich feststellte, das wunderbare Gedicht aus dem Interview findet sich gar nicht in diesem Büchlein!

Dafür ziert mein Lieblingsgedicht daraus gleich den Einband:

haiku für uns

blütenblatt im haar

kirschbaumweiß auf greisenweiß

frühling, unsichtbar

Wie wunderbar – nun brauche ich nur noch ein Häuschen mit Kirschbaum im Garten, dann kann das Altwerden, Ergreisen kommen! 🙂

 

alle Zitate aus: Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst, gedichte (erschienen bei S. Fischer)

 

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