Eigentlich hätte Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital heute Abend im Essener Grillo-Theater Premiere feiern sollen, doch weil man wegen Krankheit mit den Proben hinterherhinkte, wie Regisseur Volker Lösch vor Beginn der gestrigen Voraufführung betonte, wurde die Uraufführung dieses „Märchens von der sozialen Gerechtigkeit“ auf den 20. Februar verschoben. Work in Progress war’s also, was ich gestern sah, bestehend aus vier Grundzutaten: Mark Twains Märchen projeziert aufs heutige Essen, Löschs Laienchöre als Markenzeichen, dazu einiges an Bühnenbildaufwand und didaktisch aufbereitete Fakten.
Das Auffälligste an dieser Inszenierung dürfte die graue, große Mauer sein, die den Zuschauerraum teilt: auf der einen Seite sitzt man auf den gewohnten roten Polsterstühlen und blickt zur Bühne, die auf einen goldenen Rahmen mit roten Samtvorhang reduziert ist. Auf der anderen Seite der Mauer gibt’s keine Stühle und die Bühne ist nur über Monitore zu sehen. Voilá, so bringt Carola Reuthers Bühnenbild die Teilung Essens in reichen Süden und armen Norden samt A 40 dazwischen ins Grillo-Theater. Der Prinz ist hier der Aldi- pardon: der Dial-Erbe, und wird von Henriette Hölzl gemeinsam mit der einen Hälfte des Laienchors bestehend aus Jugendlichen dargestellt. Die andere Chorhälfte gibt zusammen mit Phillip Noack den Bettelknaben. Die Vervielfältigung der beiden Figuren ins Chorische funktioniert hervorragend und Jugendliche wie Schauspieler machen ihre Sache richtig gut, trotz Probendefizits. Und der Rollentausch per Mauerentern hat definitiv was. Dass natürlich auch das Publikum die Rollen- äh, die Seiten tauscht, nun ja, das ist vorhersehbar und wirkt aus dem Rang betrachtet (wo man als Zuschauer seinen Platz behalten darf) ein wenig wie ein Versuchsaufbau mit Ratten im Labyrinth. Was vermutlich so beabsichtigt ist …
Aber wo ist die Handlung, wo bleibt die Dramatik oder wenigstens die Dramaturgie? Dass Mark Twains versöhnliches Märchenende nicht Volker Löschs Sache ist, kann sich jeder denken, der schon einmal irgendeine andere Inszenierung dieses Regisseurs sah. Muss ja auch nicht. Bloß: da der größte Teil der Texte wahlweise aus den diversen Aussagen und Statistiken, die es zum Thema soziale Ungerechtigkeit und bildungsmäßiger Undurchlässigkeit der Gesellschaft so gibt, oder aus entsprechenden Illustrationen mit kleinen Spielszenen (geiziger Unternehmensbesitzer bringt seinem Prinz das Sparen bei, arme Bettelknaben-Mutter verliert Discounter-Job, etc.) besteht, wächst der Zeigefinger statt der dramatischen Spannung oder auch meine Empathie beim Zusehen. Und wenn am Schluss die Zuschauer aus dem Parkett auf die Bühne geführt werden, wo jeder, aber auch wirklich jeder einzelne Mitspieler noch einmal aufsagt, welche Maßnahmen er ergreifen, welche Steuer er erhöhen würde, um die Welt gerechter zu machen, ist die Luft für mich ganz und gar raus.
Schade. Denn, wie gesagt, die Schauspieler und die jugendlichen Laien geben ihr Bestes. Da ließe sich was draus machen. Nun ja … ich sah ja erst eine Art Hauptprobe. Vielleicht, so hoffe ich für alle Beteiligten, stellt sich noch ein Premierenwunder ein.
Aber womöglich ist das ein so frommer Wunsch wie der, dass das Regieteam mutig genug gewesen wäre, die Ungerechtigkeit nicht immer nur bei den anderen zu suchen sondern den Blick auch auf den Kulturbetrieb gerichtet hätte, in dem die Einkommen ja ebenfalls verdammt ungleich verteilt sind …