Der Rat eines Rezensenten, sich bei der Lektüre von Alice Munros Something I’ve been meaning to tell you zu zügeln und nur eine der seltsam klarsichtigen Kurzgeschichten pro Tag zu lesen, ist an sich ein sehr guter. Problematisch wird es allerdings, wenn man hinterher über das Gelesene schreiben will und plötzlich Wochen oder Monate vergangen sind, weil immer wieder Pflichtlektüren dazwischen kamen. Insofern ist der Band mit Erzählungen aus den 1970ern in mehr als einer Hinsicht eine Zeitreise …
und am Ende steht, wie bei so vielen Reisen, die Frage, was ist im Gedächtnis geblieben?
Von der titelgebenden ersten Geschichte ist das ein typisches Munro-Dreieck aus zwei Schwestern und dem Gatten der einen, dazwischen Unausgesprochenes, das ein Leben lang im Raum steht.
In Material erzählt die erste Frau eines Schriftstellers aus ihren frühen gemeinsamen Jahren, die auf verschrobene Weise zu Material für den Autor werden – und das, obwohl die Frau, das erzählende Ich, damals nicht glaubte, dass er wirklich das Zeug dazu hat.
Von How I met my husband bleibt das Gefühl einer mäandernden Bewegung, eines Impulses, der in eine ganz bestimmte Richtung zielt, um dann vollkommen anders als erwartet ins Schwarze zu treffen. Was für mich sowohl die Themen erste Liebe und Erwachsenwerden, die in der Geschichte angeschnitten werden, als auch ein besonders bezeichnendes Verfahren von Munros Erzählweise charakterisiert.
Walking on Water – eine wunderschöne, teils magische, teils tragische Prosaminiatur, in der die 1970er samt Hippiebewegung lebendig und gegenwärtig sind, auch, wenn die Menschen, um die es geht, eigentlich die ganz normalen Bürger (gar Spießer) ihrer Zeit sind. Eine Geschichte, die sich liest, als sitze man am Strand und atme Meerluft ein, während man die Wolkenmalereien am Himmel genießt.
Forgiveness in Families – hier muss ich überlegen – davon ist mir ein seltsam unterdrücktes Gefühl geblieben, womöglich das des erzählenden Ichs gegenüber der Mutter? Als sitze man in einem alten Haus, dessen Fenster mit Brettern zugenagelt sind, die Möbel sind längst abtransportiert, aber die Erinnerungen bleiben.
Tell me yes or no – eine ganz bizarre Liebesgeschichte, die das Thema Stalking in einer Zeit, da es den Begriff so noch nicht gab, vorwegnimmt. Dabei ist die Besonderheit, dass das Stalking überwiegend im Kopf der Protagonistin statt findet – und dass man es mithin aus Sicht der Stalkerin miterlebt.
The Found Boat – eine Kindheits- oder Jugendgeschichte, in der so viele Flussgeschichten für mich mitschwingen, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann: von Huck Finns Floß bis zu Edge of Dark Water und darüber hinaus, sozusagen.
Executioners – hier bin ich einen Moment ratlos, dann fällt es mir wieder ein, und das passt ebenfalls zur vorangegangenen Assoziation mit Joe R. Lansdale: eine düstere, enigmatische Geschichte von der Rache eines Kindes, Außenseiter gegen Außenseiter. Verstörend und schön zugleich.
Marrakesh – eine Nachbarschaftsgeschichte in der Kleinstadt, eine Generationengeschichte, in der die Jugend ganz flowerpowemäßig die große weite Welt ins muffige Kleinklein holt, das ist jedenfalls das, an das ich mich erinnere. Und an den eigenartigen Altersstarrsinn der Haupfigur Dorothy.
The Spanish Lady – war das nicht die scheiternde Dreiecksliebesgeschichte erzählt in Briefen? Ja und nein. Es beginnt mit Briefen und endet mit einem Schrei, und es dreht sich alles um eine scheiternde Ehe.
Winter Wind – der Titel bläst durch ein zunächst leergefegtes Hirn. Die Geschichte eines Mädchens, das weit draußen auf einer Farm mit seiner Familie lebt und in der Stadt, wo zwei unverheiratete Tanten wohnen, zur Schule geht. Ein Wintersturm macht es ihr eines Tages unmöglich, nach Hause zu fahren und sie muss eine Weile bei den Tanten bleiben. Und am Ende eine Art Flucht nach Hause. Vielleicht die schwächste Geschichte des Buches.
Memorial spielt am Tag der Beerdigung eines jungen Mannes, des Neffen von Eileen, der Hauptfigur. Ein Unfalltod, eine Nachbarschaft, Familie und Freunde, die zusammenkommen und sich über weite Strecken seltsam heutig anfühlen in ihren Themen, dabe zugleich ein sehr klares Bild der Gesellschaft in den 70ern zeichnen. Menschen im Aufbruch bei einem Abschied und die Spannungen zwischen zwei Schwestern und deren unterschiedlichen Lebensentwürfen.
Am Ende dann The Ottawa Valley. Wieder eine Familiengeschichte mit verschiedenen Zeitebenen und Strängen. Ein Landschaft entsteht vor dem geistigen Auge, und verweht – was bleibt, sind Eindrücke von Würde und Scham, von Überleben und der unausweichlichen Verbundenheit vielleicht nicht mit den Verwandten, aber doch mit dem, was man erinnert, was einen prägte.
Das war’s. Kurzgeschichten sind nun mal flüchtiger als Romane, was das Haftenbleiben im Gedächtnis angeht. Nicht, weil sie weniger beeindruckend wären, ganz sicher nicht. Sondern einfach, weil man naturgemäß weniger Zeit mit der Geschichte, den Figuren, der Sprache verbringt als bei einem Roman. Aber bevor ich mich an Munros (bislang?) einzigen Roman wage, freue ich mich erstmal auf weitere Bände mit Erzählungen von ihr. 🙂