Literatur, musikalisch

Phrasen, Themen, Motive, dazu Rhythmus, Wiederholung und Variation – das sind nur einige Parallelen zwischen Literatur (in diesem Fall erzählender Prosa) und Musik. Zugleich spricht man ja immer wieder von „symphonischen Dichtungen“ und Tschaikowsky selbst gehörte wohl zu den Menschen, die Lebenserfahrungen in Kunst verwandelten, darin geradezu den Auftrag an sich als Künstler sahen. Das galt für ihn in besonderem Maße für sein letztes Werk, die „Symphonie Pathétique“. Wie passend, dass Klaus Mann diesen Titel auch für seinen 1935 erschienen Tschaikowsky-Roman wählte.

Die Taschenbuchausgabe von Klaus Manns Roman "Symphonie Pathétique" auf schwarzem Grund vor einem Kissen mit dem Schattenriss eines Hirsches
Ein Werk mit starken Kontrasten und vielen Ornamenten: Die „Symphonie Pathétique“ von Tschaikowsky bzw. ihre literarische Tochter, der gleichnamige Roman von Klaus Mann.

Ich kann nicht beurteilen, wie viel im Roman tatsächlich nachweislich biografisch ist. Einerseits ist er gespickt mit den Namen von Zeitgenossen, Verwandten, Freunden, Konkurrenten, Kritikern Peter Iljitsch Tschaikowskys: Es werden zahlreiche Begegnungen geschildert, etwa mit Grieg oder auch mit von Bülow, mit Brahms und anderen Größen der Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dazu die Konzertreisen des Meisters selbst, der doch das Reisen so gar nicht ertragen kann. Andererseits blickt der auktoriale Erzähler Peter Iljitsch immer wieder tief in die leicht erschütterbare, außerordentlich empfindsame Seele – was streckenweise schon einer speziellen Bewusstseinsstromtechnik nahekommt.

Dieses Eintauchen und in Sprachefassen – eine sehr facettenreiche, vielfältige variierte Sprache, in der oft girlandenartige verschlungene Satzmäander die Fülle der Wahrnehmungen und Überfülle der (Selbst)Zweifel, das Chaos des Katastrophendenkens Tschaikowskys unterstreichen, bevor das nüchterne Stakkato kurzer, knapper Formulierungen den Boden der Tatsachen zurückbringt – ist für mich dabei in doppeltem Sinne das Wesentliche: Die Form folgt dem Gegenstand, den sie zugleich hervorbringt und sie wirkt dabei ganz so, als hätte Klaus Mann Tschaikowskys Musik mitsamt ihren Melodiebögen und ihrer Ornamentik in Sprache übersetzt.

Haben sich hier zwei verwandte Seelen über die Zeit hinweg getroffen, Tschaikowsky, der an seiner Homosexualität litt, und Mann, der sie offen lebte? Zwei Außenseiter, zwei Rastlose, Exilanten gar? Darüber könnte man spekulieren (und ich gehe davon aus, Literaturwissenschaftler wie Biografen taten das bereits ausgiebig, womöglich bändeweise), genau wie über die Frage, versteht man die Musik des einen durch den Roman des anderen besser und umgekehrt? Das kommt meiner Lesart oder auch meinem Erleben schon näher.

Kunst, ob Musik oder Literatur, Malerei oder Tanz, sollte keine Erklärungen brauchen, wenn es darum geht, sie zu erleben. Für die Begegnung mit einem Werk braucht es erstmal Offenheit und Aufmerksamkeit, vor allem aber die Bereitschaft sich darauf einzulassen. Erläuterungen, Einordnungen, Erklärungen und Fußnoten kommen für mich erst danach. Zuerst will ich sehen, hören, denken, fühlen, was ein Werk in mir auslöst, was es für mich bedeutet – der Rest kommt später und eröffnet hoffentlich weitere, andere Blickwinkel, auf die ich selbst nicht gekommen wäre, die mir sonst verschlossen geblieben wären.

So wie bei diesem Roman und dieser Symphonie. Tschaikowsky und sein Werk durch Klaus Manns „Brille“ zu betrachten, war eine Erweiterung meines Blicks auf beide, den Autoren und den Musiker, und ein Genuss obendrein.

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