Generationenbande

Manche Begriffen sind viel benutzt, aber doch von der Bedeutung her etwas schwammig. Generation etwa – wenn man die Bedeutungen „Nachkommen einer/s gemeinsamen Vorfahrin/ens“ und „durchschnittlich Dauer des Intervalls zwischen der Geburt der Eltern und der Geburt ihrer Kinder“ weglässt und sich auf die „Menschen, die etwa zur selben Zeit geboren werden/wurden und leben/lebten“ als Gruppe beschränkt: was genau verbindet diejenigen über den zeitlichen Zufall hinaus? Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ zu lesen war für mich in diesem Zusammenhang fast so etwas wie eine kleine Erleuchtung.

"Für diesen Sommer" von Gisa Klönne als Hardcover auf dem Holzfußboden meines Arbeitszimmers.

Eine Familienroman erzählt aus zwei Perspektiven: Franziska, die über Jahrzehnte hinweg keinen Kontakt mit der Familie hat, übernimmt für einen Sommer die Sorge für den zunehmend gebrechlichen, auch immer wunderlicheren Vater Heinrich – eine Situation, die keiner von beiden wirklich will, aber da die Erstgeborene Monika vorübergehend ausfällt, bleibt nichts anderes übrig. Okay, könnte man sagen, Franziska ist in etwa im selben Alter wie ihre Autorin und auch wie ich als Lesende, und das Thema alternde Eltern, das steht dann eben im Raum. Gut, dass wir drei (Franziska, Gisa und ich) überdies Yoga machen, die beiden anderen auch lehrend, ich nur ausdauernd, das ist dann eben noch ein Zufall obendrein. Und ja, dass die eigenen Eltern mit traumatischen Kindheits- und Fluchterfahrungen aus dem zweiten Weltkrieg zu tun haben, das dürfte auf viele Menschen unserer Generation zutreffen.

Dennoch. Ohne zu wissen, warum das so ist (oder auch nur nach einem Warum zu fragen), habe ich mich schon als Kind ein Stück weit fremd gefühlt in meiner Heimat am Rhein. Dass das damit zu tun hat, dass meine Eltern eben nicht von dort kommen, wir hier keine womöglich jahrhundertetiefen Familienwurzeln haben, wurde mir erst später bewusst. Und wie sehr die Fluchterfahrung/en der Eltern das eigene Leben beeinflussen, dass diese sogar eine Brücke zu anderen Menschen sein können, kam als überraschende Erkenntnis am Rande eines filmwissenschaftlichen Symposiums irgendwann in den 1990ern im Gespräch mit einem israelischen Filmhistoriker, der als Kind von Holocaustüberlebenden in einem Lager für Displaced Persons in Süddeutschland geboren worden war. Wir staunten beide nicht schlecht, wie vertraut sich das Erleben und die Erfahungen des jeweils anderen anfühlten, wo man doch von außen hätte meinen können, dass es Gegensätze hätten sein sollen.

Ganz ähnlich staunte ich, wie sehr ich mich bei der Lektüre von „Für diesen Sommer“ mit dem Buch und vor allem mit seiner Autorin verbunden fühlte, und das beileibe nicht nur, während ich gerade tatsächlich las. Auf meiner Yogamatte im Wohnzimmer hatte ich manchmal den Eindruck, wir würden zu dritt miteinander üben (und fragte mich insgeheim, was die beiden Yoga-Lehrerinnen Franziska und Gisa wohl von meinem über Jahrzehnte des Solo-Übens entstandenen Übungsstil hatlen würden). Beim täglichen Telefonat mit meiner Mutter lugte mir mal gefühlt die Protagonistin, dann wieder die Autorin über meine Schulter, vor allem, wenn wir über meinen Vater, den zunehmend gebrechlichen, ehemaligen Ingenieur sprachen, dem heutzutage oftmals die Zeit seiner Kindheit und Jugend präsenter als andere zu sein scheint – so wie bei Heinrichs Vergangenheitszeitebene im Buch.

Und dazu dann Franziskas Kindheit und Jugend in den 1970ern und 1980ern samt Schülerzeitung, Protest gegen die Startbahn West und allem anderen, was in dieser Zeit wohl zur Sozialisation im Bildungsbürgertum gehörte — plötzlich wurde mir klar, die Fremdheitsgefühle in meiner Kindheit und Jugend, die sind das eine, ein gewisses Engagement und selbst das Yoga, die Sinnsuche, sozusagen, sind das andere, das zusammen mit weiteren Puzzleteilen eine Art Generationengefühl ergab, wie ein Band in der Zeit. Oder gar eine Art beheimatet sein in derselben, zeitgebundenen Erfahrungswelt?

Passend auch, dass es in Gisa Klönnes Roman zudem um Vergänglichkeit geht. Denn alles, was zeitgebunden ist, endet nun mal, also stellt sich jedem Menschen und auch jeder Generation vielleicht die Aufgabe erneut, einen Umgang damit zu finden.

Natürlich braucht es dafür mehr als ein wirklich gutes, berührendes Buch zu lesen. Aber „Für diesen Sommer“ könnte ein verdammt guter Einstieg dazu sein und das womöglich nicht nur für Menschen meiner, unserer Generation. Danke dafür und für alles andere auch, liebe Gisa!

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