Für mich ist jede Inszenierung eines Stückes von Elfriede Jelinek ein kleines Wunder. Das gilt auch für die von Hermann Schmidt-Rahmers Version von Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!„, die am Freitag am Essener Grillo-Theater Premiere hatte. Wie gut, dass der Regisseur beim Lesen der gern als Textflächen bezeichneten Stücke nicht verloren geht zwischen all den Beobachtungen geschöpft aus dem Zustand der Welt, den kunstvollen Assoziationen und der ganzen Sprachmacht, sondern daraus ein Stück zu bauen versteht mit Figuren und Handlungsbögen. Zumindest, soweit das eben möglich ist. Aber der Reihe nach.
Die ersten Sätze des Abends erscheinen wie auf einer alten, mechanichen Schreibmaschine getippt Buchstabe für Buchstabe auf der weißen Leinwand. Mitlesend breitet sich erst Stille, dann auch hörbare Zustimmung mit dem Geschriebenen – es geht um die unterschätzte Intelligenz der breiten Masse und um Gefühl in der Politik – im Publikum aus, bis der Name des Urhebers erscheint und alles in eine unerwartete, andere, böse Richtung dreht. Eine junge Frau (Silvia Weiskopf) in rosagrauem Freizeitoutfit mit Smartphone an der Handykette tritt durch den Saal auf und besteht darauf, dass alle anderen ihre Smartphones hervorziehen, herzeigen und ausschalten. Wegen der Strahlung. Weil sonst nichts mehr klappt mit der Funkstrecke im Theater. Und weil nur sie strahlen will. Ein pointierter, erster Monolog über den Lärm im Netz voller Sprachspiel, Assoziationen und Verweise entsteht, der mit dem Absturz der Technik endet, als die junge Frau selbst eine Nachricht sendet. Entschuldigungen murmelnd verschwindet sie.
Darauf tritt über die Bühne in mondänem, hautengen Silbergewand in klassischer Hollywoord-Manier eine ältere Frau auf (Ines Krug), die vom Erzählen und Nacherzählen, vom Finden und Erfinden im Netz redet und darauf besteht, dass niemand zu trauen ist in all dem Lärm, das alles erfunden ist, nichts wahr, und sie sowieso nicht versteht, von was sie selbst spricht. Der zweite Monolog über das Geschrei in den (sozialen) Medien, sozusagen, und auch er endet mit einer Entschuldigung: nämlich der, dass sie jetzt doch arg viel Zeit gebraucht hätten, um gerade mal ans Ende der Exposition zu kommen.
Und dann beginnt die eigentliche Handlung (wenn das mal nicht erlogen, erfunden oder bloß falsch verstanden war mit der Exposition ;-)) und führt erstmal ins Kitzloch, die Apés-Ski-Bar in Ischgl (Bühne: Thilo Reuther), aus der sich Corona über ganz Europa verteilte. Das bietet einerseits viel „lärmendes Material“ mit all den Verschwörungstheorien von Querdenkern und anderen Leerdenkern, und mischt sich andererseits blended mit dem 10. Gesang der Odyssee – also dem Teil, wo sie auf der Insel der Zauberin Kirke (Ines Krug) landen, die Odysseus‘ Gefährten in Schweine verwandelt, bis der Held (Jan Pröhl) mit ihr anbandelt und dafür sorgt, dass sie zurückverwandelt werden.
Die Reise der Gefährten (Silvia Weiskopf, Stefan Diekmann, Alexey Ekimov und Moritz Tostmann) wird konsequenterweise durch Skier (Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch) statt durch widrige Winde erschwert, aber sie suchen ja auch nicht den Weg nach Hause, sondern mal Ablenkung und Unterhaltung auf und abseits der Piste, mal Erklärungen: Wer steckt wirklich dahinter? Wieso sind die Mächtigen unsichtbar? Was ist die Wahrheit? Zwischendrin gibt’s selbstreferentielle Einlagen wie Moritz Tostmanns Domian-Parodie, in der es um Theater als Kulturblase geht, aber auch viele Schleifen und Wiederholungen, von denen manche zutiefst berühren (wie Siliva Weiskopfs Suche nach dem „Dahinter“ gleich nach der Pause, die mich so etwas wie echte Verzweiflung und Erklärungsnot als Antrieb hinter Netzlärmern, Verschwörungstheoretikern & Querdenkern spüren ließ), andere zu Längen werden. So machen die Umbauten auf offener Bühne für mich nur bedingt Sinn – klar, man könnte es als ironischen Verweis nehmen, dass das „Dahinter“ hier so unübersehbar wird, aber es zieht die Sache halt auch unnötig in die Länge.
Der Ausraster von Stefan Diekmann, der die querdenkend verschwörungstheoretisch Suchenden beschimpft, sie seien doch ohnehin zu dumm und ungebildet, die Beweise, nach denen sie verlangen, verstehen zu können, hat etwas Belebendes und wird, wenn Diekmann kurz darauf zurückkehrt in den Schoß der skischuhtragenden Wahrheitssucher, zu einem hübschen Gag. Danach zerfasert das Stück leider. Ein Bühnenwagen als fahrbares, aber nur halbfertiges Theater wird von hinten nach vorn geschoben und spult auf Knopfdruck als Wahrheit die X-te krude Theorie über die Mächtigen (wer immer die auch sein sollen) und ihre vermeintlichen Ziele ab. Dann besteigen alle gemeinsam das Theaterchen und legen mitsamt Odysseus ab, fahren wieder nach hinten. Ein Video vom Meer erscheint über ihnen, Lichter sausen herum, rechts läuft ein Countdown und wird vorzeitig ausgeblendet. Als es schwarz wird, herrscht einen Moment Verwirrung, bis sich genügend Menschen sicher sind und applaudieren.
Ein Abend mit ein paar Längen, untypisch vielen Texthängern (das kenne ich so wahrlich nicht von diesem Ensemble) und einem Bühnenbild, das streckenweise ratlos macht und raumlos wirkt, der mit dem Auseinanderbrechen dessen, was gesellschaftlich als Realität verstanden wird und dem gedankenbetäubenden Lärm der sozialen Netzwerke große Themen dennoch sehens- und vor allem hörenswert behandelt. Denn Regieeinfälle hin, Bühnen- oder Videotechnik her, das Wesentliche bei jedem Stück von Jelinek ist letztlich doch die Sprache. Und allein wegen der würde ich diesen Abend jederzeit ein zweites oder drittes Mal besuchen wollen.