Ein Jahrhundert in vier Stunden

Gestern hatte Elina Finkels Inszenierung von „Das achte Leben (für Brilka)“ nach dem Roman von Nino Haratischwili im Essener Grillo-Theater Premiere. In vier Stunden wird hier ein Jahrhundert Familiengeschichte erzählt und mit ihr die Geschichte Georgiens. So bildgewaltig, sprachmächtig, sprühend vor Leben und Einfällen, berührend, teils auch verstörend ist das Ganze, dass es mir in den Traum folgte und mich erst jetzt allmählich aus seinem Bann entlässt.

Eine Festgesellschaft der 1920er tanzt im Hintergrund. Im Vordergrund steht eine Dame mit Pagenkopf und Herrenanzug (Alexey Ekimov als Sopio Eristawi)
Alexey Ekimov (Sopio Eristawi), Ensemble in „Das achte Leben (Für Brilka)“ nach dem Roman von Nino Haratischwili. Bühnenfassung von Emilia Linda Heinrich, Julia Lochte und Jette Steckel. Inszenierung: Elina Finkel

Mit Stasia Jaschi (in jedem Lebensalter mitreißend gespielt von Ines Krug), die am liebsten nur tanzen will, was jedoch die russische Revolution von 1917 verhindert, beginnt die Geschichte. Durch Revolution und Krieg, Stalinismus und Sowjetunion führt sie die Jaschis und die Eristawis, zwei durch Liebe wie Verrat und Schuld miteinander verbundene Familien bis hin zur erneuten Unabhängigkeit Georgiens duch zumeist schwierige Zeiten. Und hierin liegt für mich als Westdeutscher, die ihre Kindheit und Jugend auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs verbrachte, eine der Stärken des Stücks: es ist auch ein Crashkurs in sowjetischer wie postsowjetischer Geschichte, der die vielen Lücken in meinem Wissen um alles, was „da drüben“ und „tief im Osten“ geschah, zu schließen beginnt.

Wie kann es sein, dass mir nie auffiel, dass „der Osten“ – also der jenseits von Ostdeutschland und erst recht jenseits der osteuropäischen Staaten der EU – ein einziger, riesiger blinder Fleck ist, verschüttet unter dem Umriss der alten Sowjetunion und damit nur allzu oft gleich fälschlich als ‚russisch‘ missverstanden? Wie kann es angehen, dass 2008 im Westen als das Jahr der Finanzkrise gilt, aber der achttägige Krieg im Sommer dieses Jahres in Georgien keinen Platz in unserer Wahrnehmung hatte? Und, um zurück zur Premiere „Das achte Leben“ zu kommen: Wie hätte ich wohl gehandelt, hätte ich mich in einem Unterdrückungssystem stalinistischer Prägung behaupten müssen?, das ist eine Frage, die man sich wieder und wieder in dieser Inszenierung stellt.

Denn das ist die Stärke des Stücks, womöglich schon des Romans, den ich leider nicht kenne: Das hier ist kein Lehrstück, in dem die Figuren lediglich als Beispiele für dieses oder jenes agieren. Hier geht es um Menschen, um unsere unbekannten Nachbarn. Und wie das Ensemble diese Figuren zum Leben erweckt! Floriane Kleinpaß spielt Christine, Stasias Schwester und „die Bevorzugte“ mit schmerzhafter Würde, Janina Sachau als Kitty steckt voll wildem Überlebenswillen und nimmt sich doch das Leben, Sabine Osthoff zeigt sich facettenreich gleich in drei Rollen als Elene, Ida und Alla und Alexey Ekimov verkörpert großartig gleich die ganze Familie Eristawi, von Mutter Sopio bis Enkel Miqa. Das muss man selbst gesehen haben, zumal man dann auch gleich noch Erzählerin Niza (Trixi Strobl) und all die anderen wunderbaren Ensemblemitglieder erleben kann.

Und dann die Bilder, die Regisseurin Elina Finkel in Norbert Bellens Bühnenbild, das an ein heruntergekommenes Stück Industriearchitektur erinnert, schafft! So viele Details, von Sternen, roten und anderen, kreativen Geburtsbildern und einem Zeitenlauf, den die Kostüme (Vesna Hiltmann) zur Not auch ohne die historischen Videos (Zaza Rusadze) deutlich gezeigt hätten, könnte man erwähnen, und würde doch nur an der Oberfläche kratzen.

Sehen und miterleben muss man es am Ende eben doch selbst. Also keine Angst vor verschlungenen Familiengeschichten, Lücken in der eigenen historischen Kenntnis oder der Dauer des Stücks, sondern Karte geholt und reingegangen. Wer weiß, womöglich verändert es ein Stück weit das eigene Leben, sich diese acht Leben anzuschauen?

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