Ohrenbetörend

Samstag sah ich die Premiere von Pjotr I. TschaikowskyPique Dame“ im Aalto-Theater, und wieder einmal fehlen mir die Worte: nennt man so ein Werk eine Handlungsoper? Hier werden nicht nacheinander Arien gesungen, nein, alle Sprache ist Musik und die Musik Sprache. Die Handlung zwischen Liebeswahn und Spielleidenschaft verwebt Märchenhaftes mit Surrealem, und am Ende schließt sich geradezu zwangsläufig der Kreis. Sprich: ein ohrenbetörendes Erlebnis, das selbst Menschen mit Sinn für Plot und Sprache auf allen Ebenen anspricht, was will man mehr?

Ein Moment des Glücks unter Frauen, bevor Liebe und Leidenschaft die Idylle zerstören: Liliana de Sousa (Polina), Gabrielle Mouhlen (Lisa), Opernchor
Foto: Forster

Ja, okay, man mag die Kostüme (Gesine Völlm), diesen heruntergekommenen, angegrauten Mix aus Sowjetschick und russischen Trachten langweilig finden. Man könnte sich daran reiben, dass die Bühne (Johannes Leiacker) eine riesige Industrieruine mit Blick auf mehr als angejahrte Kühltürme und Kraftwerkblöcke ist (ich tu’s nicht, ich liebe zudem die schwarz-goldenen Hänger, die von der Decke fallen). Aber das an Tschernobyl errinnernde Bild samt seiner postapokalyptischen Atmosphäre passt zu einer Gesellschaft, die sich selbst längst überlebt hat, ohne es sich einzugestehen.

Dabei betrifft der Verfall nicht nur die alte Gräfin (konsquent gespielt und gesungen von Helena Rasker), die titelgebende Pique Dame, die von manchem aufgezogen und von Hermann (wandelbar: Sergey Polyakov) bedrängt wird, ihr Geheimnis zu verraten. Geht es tatsächlich um die Liebe zu Lisa (facettenreich: Gabrielle Mouhlen), die allerdings Fürst Jeletzki (berührend: Heiko Trinsinger) versprochen ist und von diesem nicht weniger geliebt wird? Oder doch nur um das Glück Spieltisch mithilfe der Kartenwahrsagekraft der Gräfin? Was ist wahr, was gelogen, was ist real, was Traum oder vielmehr Albtraum?

Aber, muss man das entscheiden können? Ich mag’s, wenn die Regie (Philipp Himmelmann) ein Ganzes schafft, und doch am Ende nicht alles erklärt ist, alles aufgeht, sondern Fragen bleiben, die ich mit nach Hause nehmen kann. Denn so springt für mich nicht nur der Funke von der Bühne und aus dem Orchestergraben aufs Publikum über. Nein, es klingt noch in mir nach und begleitet mich in meinen eigenen Alltag. Wie schön!

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