The Delusions of Certainty (IV)

Was uns als Menschen ausmacht, unsere mentalen und geistigen Fähigkeiten, das entsteht erst in einem komplexen Zusammenspiel aus genetischen Anlagen und den Bedingungen, unter denen wir aufwachsen und leben. Für Siri Hustvedt heißt das auch, dass Erinnerung eine große Rolle für die Vorstellungskraft und Kreativität spielt:

If I had not heard many people speak or read books in which characters speak, I would not be able to write them, but writing is not just remembering: it is remembering, combining memories, and inventing something new through the faculty of memory. This is, in fact, Vico’s theory of memory. He believed memory could be devided into three parts: memoria, recalling same things; fantasia or imagination, which alters or imitates those same things; and ingegno, ingenuity, which gives things a new spin, reorders them in new relationships.

[Siri Hustvedt, „The Delusions of Certainty“, in: ‚A Woman Looking at Men Looking at Women‘, p. 311]

Manch kreativer Kopf mag sich im ersten Moment ärgern, kaum jemand kopiert doch absichtlich! Aber egal wie intelligent oder kreativ wir sind, wir erschaffen nicht uns selbst und unsere Werke aus dem Nichts oder eben allein aus der „Genialität unseres Geistes“. Wir begegnen anderen Geschichten, wir erleben Geschichten und leben unsere eigene – und wenn man Künstler ist, dann ist die eigene Kunst auch so etwas wie ein besonderer Blick auf die Welt und ein spezieller Weg, sie zu verstehen.

Aber nicht nur Künstler haben Geschichten, bevor sie als Autoren Geschichten schreiben (und damit vielleicht am Ende Geschichte machen ;-)), auch Wissenschaftler existieren nicht im luftleeren Raum:

Furthermore, every person has a story, a shaping narrative, if you will. I cannot tell you how many times I have met neurologists who suffer from migraines or have family members with brain damage. I have met numbers of psychiatrists ans psychoanalysts who grew up with mentally ill parents or siblings or had difficult childhood themselves. I have met people who have devoted their lives to suididology because a loved one killed him- or herself. I have also met neuroscientists whose personalities mirror their work. Those who are stiff, withheld, and socially unforthcoming seem to produce work narrow in scope and rigorous in method. […] Others who are warm and amiable produce work that is broader in scope and more prone to speculation. […] I am not making a comment about quality. There is superb narrow work and superb broad work.

[Hustvedt, pp. 332]

Eigentlich ganz naheliegend, dass sich unser aller Leben – die Lebensgeschichten wie auch unsere Persönlichkeiten – mehr oder minder deutlich in unserer Arbeit spiegelt. Aber welche Rolle spielen unsere Körper dabei – wo sich doch die Ausgangsfrage des ganzen Essays auf das Verhältnis von Körper und Geist, Gehirn und Bewusstsein bezieht?

Human beingss are animals with hearts and livers and bones and brains and genitals. We yearn and lust, feel hunger and cold, are still all born from a woman’s body and we all die. These natural realities are inevitably framed and understood through the culture we live in. If each of us has a narrative, both conscious and unconscious, a narrative that begins in the preverbal rhythms and patterns of our early lives, that cannot be extricated from other people, those to whom we were attached, people who where part of shaping the sensual, muscular, emotional rhythms that lie beneath what become fully articulated narratives intended to describe symbolically the arc of a singular existence, then each of us has been and is always already bound up in a world of others.

[Hustvedt, p. 335]

Wir alle als Individuen, die ohne die anderen nicht sein können, die miteinander verwoben, verbunden sind und dabei Bedingungen unterworfen – das ist nahe an buddhistischen Auffassungen menschlichen Lebens. Das Ich, ob singulär oder multipel, als Teil des Wir bzw. verschiedener „Wirs“ – das mag die eigenen Autonomiebestrebungen und Einzigartigkeitswünsche kränken, es erscheint mir aber ehrlich, wenn man  das so sagen kann, folgerichtig, eine stimmige Beschreibung unserer Existenzbedingungen.

Zumal ja die Betonung der Verbindung und Verbundenheit menschlicher Individuen nun nicht bedeutet, dass wir verwechselbar oder gar beliebig austauschbar wären – und ich finde es wunderbar, dass Siri Hustvedt in dem Zusammenhang noch einmal auf Kindheitserinnerungen zurückgreift und damit auch Fragen berührt, die für mich zu den ersten Erinnerungen an Gedachtes gehören:

Over and over, I thought how strange it was to be a person, to see through eyes, and smell through something that poked out of the middle of my face and had holes in it. I would wiggle my fingers and stare at them amazed. Aren’t tongues awfully odd? Why am I „I“ and not „you“? Are these not philosophical thoughts? And don’t many children have them? Isn’t good thinking at least in part a return to early wonder? Every once in a while, I tried to imagine being nowhere – that is, never having been anywhere. For me, it was like trying to imagine being no one. I still wonder why people are so sure about things. What they seem to share is their certainty. Much else is up for grabs.

[Hustvedt, p.. 336]

Meine „unmögliche Vorstellung“ drehte sich zwar um die Frage „was ist das ich, das hier denkt?“ und darum, warum es hier, also in diesem Körper, und nicht in dem eines anderen steckte – doch das ändert wenig an der Parallelität, der Verwandtschaft des Staunens und Fragens, die ich hier sehe. Und für ihre Verwunderung über die Gewissheit der anderen hätte ich Hustvedt umarmen mögen. Denn das gehört für mich ebenfalls zu dem, was mich durch mein Leben begleitet: die Ungewissheit, die Ahnung, dass man alles auch ganz anders betrachten, erklären könnte – und das Staunen, die Irritation darüber, dass viele andere entweder gar keine eigene Fragen stellen oder nur rhetorische solche. Als seien Fragen nur dazu da, ein für allemal beantwortet zu werden, und nicht, um zu tieferem Verständnis, unbekannten Denkräumen und neuen Fragen zu führen …

Openness to revision does not mean a lack of discrimination. It does not mean infinite tolerance for ranl stupidity, for crude thinking, or ideology and prejudice masquerading as science or scholarship. It does not mean smiling sweetly through inane social chatter about genes, hardwiring, testosterone, or whatever the latest media buzz has on offer. It means reading serious texts in many fields, including the arts, that make unfamiliar arguments or inspire foreign thoughts you resist by temperament, whether you are a tough-minded thinker or a tender-minded one, and allowing yourself to be changed by that reading.

[Hustvedt, p. 339]

Und das ist mir dann wohl mit Hustvedts Essay passiert. Denn so viel ich schon über das Bewusstsein, das Denken sowie über Fragen von Ich, Selbst und Identität nachgedacht habe, den Rollen, die der Körper dabei spielen könnte, habe ich bislang keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Und das, obwohl ich vor Jahrzehnten mit dem Yoga anfing, um so über den Körper dem Geist sozusagen „unverfälscht“ nahezukommen.

Manche lose Fäden brauchen lang, um verknüpft zu werden … mal schauen, welche Gedanken, Fragen und (unmöglichen) Vorstellungen meinerseits sich daran verfangen werden 🙂

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