Raoul Biltgen ist Schauspieler, Theatermacher, Psychotherapeut, freier Schriftsteller und obendrein Luxemburger, der in Wien lebt. Letzteres gilt auch für seinen Schmidt René, der Maler war und Scherzbold, nun jedoch nicht mehr. Denn: Schmidt ist tot heißt der 2017 bei Wortreich erschienene Roman, in dem der kleine Bruder Schmidt Patrick sich auf Spurensuche begibt.
Nicht unbedingt, weil er das nun will. Anfangs glaubt er, dass sein Bruder, von dem er sich längst entfremdet hatte, sich einen Scherz erlaubt und gar nicht tot ist. Dann reist er dennoch nach Wien und gerät unversehens in einen Noir, bei dem kaum jemand ist, was er vorgibt zu sein. Mal eine andere Art, Wien als Schauplatz eines Verbrechens herzunehmen, ein wenig so, als träfe Kafka auf Graham Green. Kein Wunder, dass das Buch (übrigens ein besonders schönes Hardcover, das ungemein angenehm in der Hand liegt, auch das ist eher ungewöhnlich) in diesem Jahr für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Roman nominiert ist.
Was mich daran am meisten fasziniert, ist der Umgang mit der Sprache. Schmidt Patrick hat gerade erfahren, dass sein toter Bruder Schmidt René sich keinen Scherz erlaubt hat, sondern unter Terrorverdacht in Haft saß, als er sich unter gelinde gesagt seltsamen Umständen das Leben nahm. Der Polizist setzt ihn vor seinem Hotel auf der Mariahilfer ab:
Mit den beiden Visitenkarten in Fingern stand Schmidt am Gehsteig und schaute dem Polizeiwagen nach, der sich noch schnell vor einen abfahrenden Bus drängte und dahinter verschwand.
Schmidt stand mit den beiden Visitenkarten am Gehsteig und schaute keinem bestimmten Auto mehr nach, er schaute einfach nur so in den Verkehr hinein, ohne Autos oder Busse wirklich wahrzunehmen.
Schmidt stand mit den beiden Visitenkarten in den Fingern am Gehsteig und dachte sich, dass der Verkehr an der Ecke zur Geschäftsstraße viel zu langsam ging, dass er es sich zweimal überlegen würde, mit dem Auto diese Straße zu befahren, dass man sich nicht einmal schnell entschlossen vor ein vorbeirauschendes Auto werfen könnte, um dem Ganzen ein Ende zu machen, denn da würde man höchstens auf den Asphalt geworfen, um mit eingerissener Hose und aufgeschürftem Handballen wieder aufzustehen und sich entschuldigen zu müssen, weil man nicht aufgepasst hatte … Aber sterben dabei?
Schmidt stand mit den beiden Visitenkarten in den Fingern am Gehsteig und ein möglicher Passant hätte nicht wirklich sagen können, ob es der raue Wind war oder etwas anderes, das diesem einfach so dastehenden Mann das Wasser in die Augen trieb.
(Schmidt ist tot, S. 81f)
Wiederholung und Variation auf der einen Seite, unmerkliche und doch zwingende Annäherung ans zentrale, aber von der Figur nicht als solches wahrgenommene Gefühl auf der anderen, als sei das Erstaunen, das Nichtbegreifen können Schmidts im Erzählfluss geronnen. Oder das Gerinnen seiner Wahrnehmungen, seine stockenden Gedanken, die Paten des Erzählflusses, der sich beinah in sich selbst verfängt. Und all das mit einem Vokabular, das zurückgenommener kaum sein könnte.
Natürlich gibt es Actionszenen in diesem Buch, Gewalt, Gegengewalt, Liebe auch, all das, was einen Krimi, noir oder anderweitig, ausmacht. Aber das ist nicht das, was mich staunen lässt und nachdenken, das ist und bleibt die Sprache. Gerade weil sie sich so betont schlicht gibt, manchmal fast schüchtern wirken könnte, wäre da nicht der gekonnte Umgang mit ihr, der Rhythmus darunter.
Und plötzlich, mitten in der Lektüre, machte mir das die schauspielerische Qualität der Sprache auf eine neue Art bewusst. Letztlich benutzen wir alle ja immer mehr oder minder dieselben Worte, Phrasen, grammatischen Strukturen, etc.pp. Ganz gleich, ob wir einen Behörden- oder einen Liebesbrief schreiben, ob es um Alltagsdinge, Journalismus, Wissenschaft oder Kunst geht. Ob wir die Wahrheit sagen oder lügen. Oder eben im Rahmen einer Fiktion Wahrheiten schaffen, die jenseits des Erzähltwerdens nicht existieren. Die Worte an sich sind stets dieselben. Der Kontext aber, die Art wie sie genutzt werden, variiert.
So ähnlich wie ein Schauspieler die Gesten und Blicke, Gedanken und Gefühle, die er auch im Alltag für sein ganz eigenes, privates Leben zur Verfügung hat, auf der Bühne, vor der Kamera nutzt, um kunstvoll etwas ganz anderes darzustellen, ein anderer zu werden in einem anderer Kontext, einer fremden Geschichte, als sei er nicht mehr er sonder eben der andere.
Und die Sprache, die Worte, können das auch, logisch, denn die Worte, die ich hier und jetzt verwende, habe ich an anderer Stelle ja selbst bereits in Drehbüchern oder Dramen, Gedichten oder Prosatexten oder auch einem bösen Brief an, sagen wir, den Ex-Verwalter meines Ex-Vermieters verwendet. Auch das ist eigentlich ganz alltäglich. Und zugleich abgründig, weil voll endloser Möglichkeiten.
Wie wunderbar, dass mir Raoul Biltgens gekonnter Sprach-Gebrauch genau das genau so noch einmal vor Augen geführt hat: dass die Kunst darin besteht, das Alltägliche scheinbar ganz natürlich, ja mühelos so zu verwenden, dass etwas Neues, Aufregendes entsteht. 🙂