Mit „Projekten“ auf Stadttheaterbühnen ist das so eine Sache – meist ist das ein Label für unbeholfene Versuche, aktuell und irgendwie hip zu sein, manchmal kommen dabei jedoch erstaunlich spannende Denkanstöße heraus. Ganz ähnlich sieht es mit dem Fortschritt der Digitaltechnik (ob nun als Web 4.0, Big Data oder weiß der Geier wie modisch benannt) aus – das zeugt einen Haufen überflüssigen Unsinn (Katzenvideos … ;-)), verschafft wenigen den Zugang zu den Daten vieler (und damit einen Haufen Geld und/oder Macht) und kann ungeahnt Gutes befördern. In diesem weiten und höchst unübersichtlichen Feld hat sich Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer mit Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data umgetan. Gestern wurde das Projekt am Essener Grillo-Theater uraufgeführt.
Ein langer Abend, der Technik personalisiert und Personen technifiziert: Big Data (Jan Pröhl) ist das ‚Baby‘ des Internetgurus Jaron (Daniel Christensen), der darüber seine Frau (Ines Krug) und vor allem seine Tochter Lisa (Lisa Heinrici) vernachlässigt. Was tatsächlich passiert, scheint er jedoch erst zu begreifen, als sich Lisa mit Raphaela (Raphaela Möst), einer Art fleischgewordenen Siri, einlässt, und partout nicht verstehen will, wieviel die aus vermeintlich wenigen Daten über sie herauslesen kann. Aber diese Geschichte, die über die Datafizierung der Arbeitswelt, die (Selbst)Optmierung der Menschen mithilfe von Badge Datasets und I-Watches bis hin zur vermeintlich gutgemeinte Überwachung der alten Eltern führt, die partout im eigenen Haus im leergezogenen Dorf ohne adäquate Gesundheitseinrichtungen sterben wollen, ist nur das eine.
Das andere sind die vielen Zitate von Internetgurus à la Larry Page, Sergev Brin und Eric Schmidt und Erklärungen über technische Funktionen, Algorithmen und den Kapitalismus. Glaubt heute wirklich noch wer, dass man für ‚kostenlose‘ Apps nicht bezahlen muss? Oder ist das den Digital Natives egal? Glauben die tatsächlich an Algorithmen und dass Internetunternehmen und deren milliardenschweren Bosse nur an das Wohl der Menschheit denken (und darüber gewissemassen versehentlich, gar ungewollt, reich und mächtig wurden)? Ich weiß es nicht, und leider, leider verabsäumte Schmidt-Rahmer es, eine entsprechenede Umfrage im Publikum einzubauen … 😉
Andere solche gibt es zuhauf – all diese nervigen Bewertungsnachfragen, die jeder kennt, der einmal etwas online bestellte (Waren Sie mit dem Service zufrieden? Auf einer Skala von eins bis zehn …) oder auch nur bei Amazon etwas nachschlug (Kunden, die sich dieses Buch anschauten, kauften auch …): 92 % des Publikums wünschen sich eine richtige Geschichte, 91% ein echtes Bühnenbild …
Mit einem solchen bestehend aus Versatzstücken aus Inszenierungen im Aalto-Theater ging es nach der Pause weiter. Ein netter Gag, genau wie der mit der Kamera auf einen Mann im Publikum, nach dessen Gesichtsausdruck dann Big Data eine Szene X-Mal verschieden anlegt, um möglichst genau den Zuschauergeschmack zu treffen. Überhaupt gibt es eine Menge zu lachen an diesem Abend und vermutlich für die meisten Normalonlinenutzer (und diverse digital naive …) einiges zu lernen.
Schade nur, dass Schmidt-Rahmer diesmal wieder mit dem Problem, ein Ende zu finden ringt. Nein, ein Video einer Internetgururede (schon merkwürdig, wie gerne Millardäre von „wir“ reden …) ist keine gute Idee, das lässt einfach nur die Luft raus, das ist verschenkt. Und alles, was danach kommt, brauch ich persönlich auch nicht mehr. Vielleicht ist das auch ein Problem von Projekten: woher nimmt man ein richtig gutes Ende, wenn doch alles im Fluss des Aktuellen und damit Unfertigen ist?
Dennoch ist es ein sehenswerter Abend. Allein wegen der Schauspieler und der erstaunlichen Körperlichkeit und Akrobatik, die man bei einem so abstrakt-technischen Thema ja nicht unbedingt vermuten würde …