Vom Nicht(mehr)wissen

Es gibt schlechtere Wege, zu neuen Büchern zu finden, als den vermeintlichen Umweg über die Literaturwissenschaft. So stieß ich dank eines narratologischen Aufsatzes vor ein paar Jahren auf Jeannette Wintersons Written on the Body und so entdeckte ich nun Eva Figes Nelly’s Version, das ungemein konsequent untersucht, was passiert, wenn jemand plötzlich nichts mehr über sich und die eigene Vergangenheit weiß.

Fast scheue ich mich, das, was Eva Figes ihrer Nelly Dean – also ihrer Hauptfigur, die sich mangels Wissen um sich selbst nach einer Figur aus Emily Brontes Wuthering Heights benennt – geschehen lässt, ‚Amnesie‘ zu nennen. Denn Amnesie, das ist viel zu vertraut für mich und sonst etwas, das in der Literatur viel schärfere Kanten, klarer Konturen hat. Hier in diesem Roman aus den 1970ern ist es ein allumfassender Nebel.

Ob sie sucht oder sich dem Wiedererkannt- wie dem Gefundenwerden verweigert, ihre Vergangenheit wie auch ihr selbst bleibt rätselhaft. Als Ich-Erzählerin ist sie sich selbst fremd, innerlich wie äußerlich. Während die innere Fremdheit nach und nach zu einem Stück Freiheit wächst – einer Freiheit, die das (vermeintliche) Gefundenwerden durch ihren (selbsternannten) Sohn bedroht, bleibt die äußerliche Fremdheit: Spiegel sind ihre Feinde. So bieder, wie das Bild der typischen mittelalten Mittelklassehausfrau, das der Spiegel ihr zeigt, fühlt sie sich wahrlich nicht. Und doch entkommt sie diesem Äußeren nicht.

Überhaupt ist das so eine Sache mit der Flucht. So viel Geld, das befreit von gewissen Zwängen und Sorgen. Ob im Hotel oder später zuhause, die Existenz an sich ist gesichert. Allerdings stellt Nelly bald fest, dass der Verlust der Vergangenheit auch die Zukunft bedroht. Nicht zu wissen, wer sie ist und woher sie kommt, macht es ihr unmöglich, sich ein Ziel zu suchen, weiterzugehen, weiter zu flüchten und wirklich anzukommen. Also schreibt sie Notizbücher voll mit dem, was ihr im Jetzt begegnet – und auch da lauert der Zweifel, auch da weiß sie manchmal nicht, was ist wahr und wo hat der Wunsch, eine kohärente Geschichte zu erzählen, die Wirklichkeit geglättet?

Ganz gleich, wo sie ist, Auswege gibt es nicht wirklich. Der Bahnhof führ nur hinauf oder hinab, nicht aber zu diesem oder jenem Ort. Die Menschen, die sie wiederzuerkennen glauben, erzeugen in ihr kein Echo, nicht den Hauch einer Erinnerung. Die Wege, über die ihre Spaziergänge wie ihre Besorgungen führen, haben kein Ziel. Vielmehr wirkt es, als sei Nelly in einem Labyrinth gefangen.

Das verstärkt sich, wenn sie in der Bibliothek wahllos Bücher aus den Regalen zieht, um nach dem Zufallsprinzip Seiten aufzuschlagen und ungläubig Passagen zu lesen, mit denen sie zuvor ihr Erleben beschrieb. Unheimlich wie ein (Alb)Traum liest sich das Buch, und man weiß nicht, ist dies eine Allegorie auf die Unentrinnbarkeit der Gesellschaft, die in den 1970ern noch weitaus starrer auf gewissen Rollen und Formen beharrte? Oder zeichnet Nelly ihren eigenen Weg in die Demenz nach?

Eva Figes gelingt es, mich lesend einzuspinnen in die eigene, hermetische Sicht ihrer Figur. In eine Welt, die eigentlich komplett verschlossen ist und doch womöglich auf die eine oder andere Art wenigstens in vielen von uns lauert.

Und so habe ich nun noch mit der 2012 verstorbenen Eva Figes eine Autorin mehr, von der ich gerne nach und nach mehr lesen möchte.

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