Was fängt als Wissenschaftsshow amerikanischen Stils an, setzt sich als Videoinstallation mit Schauspielern fort, hat ein glasfasererleuchtetes Riesenhirn auf der Bühne und endet im Völkermord Ruandas? Clockwork Orange – in der Inszenierung von Hermann Schmidt-Rahmer, die gestern im Essener Grillo-Theater Premiere feierte.
Wo kommt die Gewalt im Menschen her? Und wie überwindet man sie? Was in Burgess‘ gleichnamigen Roman eine Gesellschaftssatire mit eigener Kunstsprache war und in der Verfilmung durch Stanley Kubrick eine ganz eigene Form der Ästhetik bekam, wird bei Schmidt-Rahmer zum Kunst-Wissenschaftsmix. Als sei die gewaltvolle Geschichte von Alex und seinen Kumpanen ein Laborexperiment mit menschlichen Ratten, die vor, während und nach ihren Untaten gleich noch die Erklärungs- und Erläuterungsphrasen dreschen, die wir alle bis zum Erbrechen aus den Medien kennen. Und weil das wohl noch nicht ausreicht, spickt der Regisseur seine Bühnenfassung mit Politiker- und Wissenschaftleraussagen, ganz so, als stünden Alex, Alex und Alex (sehr gut: Daniel Christensen, beachtlich: Jörg Malchow und zappelig: Johann David Talinski) unter kommentierender Dauerbeobachtung durch eine illustre Versammlung von Neurobiologen und anderen Wissenschaftlern.
Schade nur, dass Schmidt-Rahmer daraus so wenig eigenes macht. Während die drei Gewalttäter wüten und zerstören, schwadronieren die anderen. Frauen (Silvia Weiskopf, Bettina Schmidt und Ingrid Domann) kommen nur als Opfer oder Wissenschaftlerdarstellerinnen vor. Die Handlung dreht sich letztlich im Kreis. Und die verschiedenen Denkansätze ebenso wie die Grade gesellschaftlicher und individueller Hilflosigkeit angesichts von Gewalt bleiben alle für sich stehen.
Gut, ich habe mich nicht gelangweilt. Das ist schon mal was. Ich habe sogar darüber nachgedacht, ob ich nicht doch mal den Roman im Original lesen sollte. Das ist auch kein schlechtes Zeichen. Aber meine emotionalen Reaktionen auf das Stück sind wie es selbst – Metakram. Ich war befremdet, weil die Frau neben mir immer wieder Heiterkeitsausbrüche hatte. Ich bin wütend, weil der Wissenschaftskram weitgehend banales Gerede ist (bloß weil jemand die Empathie fehlt, muss der noch nicht gewalttätig oder grausam sein – wie man z.B. an Autisten sehen kann -, d.h. neurobiologische Erklärungsansätze, die auf der Entdeckung entsprechender Hirnareale aufbauen, haben nur eine höchst begrenzte Reichweite. Und wer den freien Willen für überholt oder auch nichtexistent erklärt, müsste erstmal definieren, was das denn sein soll). Und ich bin frustriert, weil ich nach seiner Inszenierung von Jelineks Ulrike Maria Stuart mehr von diesem Regisseur erwartet hätte.
Als ich vor über 30 Jahren Stanley Kubricks Verfilmung von Anthony Burgess‘ Roman Clockwork Orange sah, endete das mit einer der schlimmsten Migräneattacken meines Lebens und der Erkenntnis, dass möglicherweise doch etwas an Altersfreigaben dran ist. Die Essener Bühnenfassung ist definitiv nicht kopfschmerzauslösend. Ob es solche für Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung gibt, weiß ich nicht. Aber kopfschmerzauslösend ist dieser Mix aus dramatisiertem Roman und dokumentarisch aufgearbeiteten ‚Forschungsstand‘ zum Thema Gewalt ohnehin nicht. Er ist vielmehr auf seltsame Art vollständig emotionslos. Und das ist womöglich das eigenartigste an der Sache: Während die Verfilmung offenbar seinerzeit eine heftige emotionale Überladung bei mir auslöste, wurde ich gestern per Thesenmaschinengewehrfeuer auf Abstand gehalten. Bloß kein Gefühl zulassen, schon gar kein Mitgefühl … ähm, wie war das noch mit dem Empathiemangel …?
P.S.: Sehr lesenswert fand ich die Nachtkritik zum Stück, denn Sarah Heppekausen beobachtet recht genau. Interessant dabei ist für mich auch, dass sie hier wie in anderen Kritiken die Neigung hat, am Ende stets einen ungemein versöhnlichen Schluss zu suchen. Als traue sie ihren eigenen kritischen Empfindungen nicht … aber das nur am Rande.