Es ist gar nicht so, dass ich zur Zeit nur lesen würde. Aber über alles andere kann ich gerade schlecht schreiben – was auf Jurysitzungen passiert gehört genauso wenig hierher wie Beerdigungsberichte. Heute beendete ich Anne Chaplets Schrei nach Stille. Über weite Strecken hatte mich das Buch verzaubert, aber das Ende lässt mich mehr oder minder ratlos zurück: Kann es sein, dass Kriminalromanen eine Art Geburtsfehler eigen ist?
Spannend war für mich an diesem Buch vor allem die Perspektive der Sophie Winter, die zwischen verdrängten Erinnerungen und zunehmenden Gedächtnisverlust durch Alzheimer in einer ganz eigenen Welt lebt. Als Leser bin ich in diese geworfen, weiß ich nie, was geschieht wirklich, was ist halluziniert oder herbeigesehnt, was erinnert sie, was vergisst sie und wo taumelt sie über Eselsbrücken in die Irre?
Es tut der Sache keinen Abbruch, dass Sophies Perspektive nur eine von vielen ist, denn ihnen allen ist eines gemein: Sie sind konsequent subjektiv angelegt; ein jeder bleibt in seinen Wahrnehmungen wie Vorurteilen zumindest solange gefangen, bis er ins Stolpern und so ins Grübeln gerät. Das hat etwas verstörend lebensechtes, hinter dem der Kriminalfall oder die vermeintlichen beiden Fälle (es gibt ja einen vermeintlich aktuellen und einen alten) zurücktreten.
Solange das so bleibt, ist es ein betörendes Buch, das mich völlig in seinen Bann schlägt. Aber wenn gegen Ende dann doch das Ganze zu einem Krimi werden muss, zerbricht der Zauber. Alles wird aufgeklärt und obendrein erklärt, alle Widersprüche lösen sich, und der Text, die Erzählung bleibt nackt, ihrer Geheimnisse und damit ihrer Schönheit beraubt zurück.
So fühlt es sich jedenfalls für mich an – und das beileibe nicht nur bei diesem Buch. Vielmehr hinterlassen gerade gute Krimis bei mir immer häufiger einen schalen Geschmack, ein Gefühl der unspezifischen Enttäuschung. Vielleicht bin ich dem heute mit Anne Chaplets Buch ein Stück weit auf die Spur gekommen – womöglich ist es wirklich eine Art Geburtsfehler des Genres? Als ob sich ein Krimi mit seiner Auflösung, seiner Aufkllärung strukturell betrachtet selbst frisst, sich selbst zerstört und letztlich auch zu etwas oberflächlichem macht, weil am Ende eben alles – oder wenigstens doch alles wesentliche – ausgesprochen wird und nichts, aber auch gar nichts im Dunklen bleibt.
Wie schade …
Strukturschwache Schönheit
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