Eine weiße Schräge, schiefe Ebene und Projektionsfläche zugleich (Bühne: Thilo Reuther), so empfängt die deutsche Erstaufführung von Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“ den Zuschauer im Grillo-Theater. Und abstrakt bleibt hier nicht nur das Bühnenbild von Thilo Reuther, auch die Geschichte, die Hermann Schmidt-Rahmer gestern in Essen auf die Bühne brachte, bleibt ein mal geschmiertes, mal ruckelndes Räderwerk, ein Konstrukt. Wofür die Schauspieler, die alle mit großem Einsatz mehrere Rollen spielen, rein gar nichts können und die Regie nur wenig. Denn das Grundproblem liegt in der Romanvorlage.
Schon der Roman, der 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, hat das Problem, dass er nicht wirklich von Figuren handelt, die eine Geschichte miteinander teilen, sondern mehr Thesenspiel und Ideenvorführung ist als alles andere. Klischeehafte EU-Bürokratie zermahlt eine aus Karrieresucht gezeugte und aus Verzweiflung geborene Idee – Ausschwitz als die Geburtsstunde der EU zu nehmen und die EU-Kommission als die Hüter der Geschichte – zu Nichts. Parallel dazu verläuft ein Kriminalfall im Sand, und das nicht, weil eine höhere Macht die Ermittlungen unterbindet, sondern weil Menasse keine Lust hat, diesen Teil des Plots als solchen ernstzunehmen.
Halb hatte ich deshalb erwartet, gerade hier würde in der Bühnenfassung gestrichen. Dass das jedoch unmöglich ist, weil ohne Mord mit falschem Opfer & Ermittlungen der Kommissar (Sven Seeburg) als einziges Bindeglied zwischen den diversen Erzählsträngen, die sich sonst nicht einmal berührten, fehlte, zeigte mir die gestrige Premiere. Doch ohne all das Beiwerk des Romans und dessen alles und jeden kommentierenden auktorialen Erzähler ist nicht mehr zu übersehen, was alles fehlt: Wen hätte Matek (Daniel Christensen) eigentlich umbringen sollen? Hätte er den Selbstmordattentäter, der am Ende den größten Teil des Stück-Personals in der U-Bahn tötet, im Auftrag des Vatikans aus dem Weg räumen sollen? Und wenn ja, wer war dieser Attentäter: doch nicht etwa der Mann aus Saudiarabien, der sich vor der Begegnung mit dem Schwein ekelt, das durch Brüssel läuft und Roman wie Bühnenfassung als Dauersymbol durchzieht – eine Figur mit anderthalb Auftritten in Buch und Stück?
Und so wurde mir noch etwas anderes gestern im Grillo-Theater klar: so, wie man als Übersetzerin zwangsläufig die schärfste Kritikerin aller Unschärfen des Originaltextes ist, so werden bei der Übertragung eines Stoffes von einem Medium in ein anderes die Webfehler des Plots, der Dramaturgie überdeutlich. Davon können auch keine noch so engagierten und vielseitigen Schauspielerinnen wie Ines Krug ablenken, die als Mrs. Atkinson eine großartige Figur macht und als Ausschwitz-Überlebender David de Vriend trotz der unmöglichen „Altmännerstimmimitation“, zu der man sie verdammt, überzeugt.
Schade. Ich hatte gehofft, Hermann Schmidt-Rahmer und seine Dramaturgin Carola Hanusch würden einen Weg finden, die Figuren, die Menasse hinter all den inneren Monologen und Erzählerkommentaren verborgen hat, zu befreien und miteinander wie gegeneinander agieren zu lassen. So viel Arbeit, so viel Mühe von allen Seiten und herauskommt etwas, das nicht verleugnen kann, dass es vor allem eines ist: ein Papiertiger.
Nun ja, insofern könnte man zynisch oder auch schlicht traurig denken, was für ein passendes Bild für ein Stück, das sich mit der EU befasst …