Wie wäre ich Kazuo Ishiguros Roman „The Buried Giant“ begegnet, wenn ich nicht gewusst hätte, wer ihn geschrieben hat? Hätte ich es als Fantasy mit Un/Tiefen gelesen? Als Kreuzung aus einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte und einer Art Heldenreise, bloß ohne Helden bzw. nicht aus Sicht gesehen? Was hätte ich aus dem offenen Ende gemacht – erst recht, wenn ich das Buch in einem Zug gelesen hätte und nicht in vielen kleinen Etappen über Wochen hinweg?
England, irgendwann nach dem Tod von King Arthur, also ziemlich genau da, wo Mythos auf Vor-Geschichte trifft, und das im Nebel – das ist der Hintergrund, vor dem Axl und Beatrice, zwei Liebende am Ende eines langen gemeinsamen Lebens, ihre Reise antreten. Es geht ums Vergessen, das immer mehr um sich greift, und in dem sich das Land wie das Ehepaar zu verlieren droht; denn Beatrice hörte, nur Liebende, die sich an die gleichen Dinge erinnern, bleiben auch über den Tod hinaus vereint. Was Ishiguro natürlich nicht so direkt sagt, aber jeder, der auch nur eine einzige klassische Sage gelesen hat, begreift sofort, dass es hier nicht um irgendwelche Fährmänner geht, sondern um die letzte Reise – und das mithin der Sohn, den die beiden vorgeblich nach vielen Jahren besuchen wollen, selbst bereits tot sein muss.
Weil also Beatrice unbedingt mit Axl vereint bleiben will, müssen sie geradezu zwangsläufig auf ihrer Reise das Ihre tun, um dem Land zu helfen, aus dem Vergessen zu kommen. Ausgelöst wird das vom Atem der Drachin Querig, lernen sie, und irgendein böser Fürst scheint sie als Waffe einzusetzen. Ganz genau ergründet werden diese Dinge nie, der Nebel des Vergessens verwischt sie, und selbst in der Auflösung, im Twist am Ende bleibt vieles ungeklärt: es stellt sich nämlich heraus, kein Böser mit bösen Absichten hält das Land im Vergessen, Arthur selbst gab Merlin den Auftrag, dafür zu sorgen. Um das Land zu heilen, so heißt es, denn Arthur brach in der letzten Schlacht gegen die Sachsen sein eigenes Gesetz, das bis dato bei allem Streit und Kampf dafür sorgte, das Briten und Sachsen dennoch Seite an Seite leben konnten: die Frauen und Kinder, die Dörfer wurden von beiden Seiten verschont. Bis zu einer letzten Schlacht, bei der Arthurs Leute dann die Dörfer der Sachsen zerstörten, angeblich, um so ewigen Frieden zu erreichen …
Aha. Was den Sinneswandel King Arthurs einst auslöste, erfährt der Leser leider nicht. Dafür stellt sich natürlich heraus, dass Axl einst zu Arthurs Männern gehörte, er einer derjenigen war, die den Frieden für die Zivilbevölkerung übers Land getragen und damit Vertrauen unter den Stämmen geschaffen hatten. Und er fühlte sich damals persönlich betrogen von Arthurs Verrat an seinem eigenen Frieden, weshalb er seinen König nach der letzten siegreichen Schlacht verfluchte und verließ. Und ebenso zwangsläufig stellt sich heraus, die beiden Begleiter, auf die Axl und Beatrice unterwegs stießen, vertreten entgegengesetzte Lager: der greise Ritter Gawain ist der Hüter der alternden Drachin und Wistan ein Sachsenkrieger, der sie töten soll, damit die Sachsen sich erst erinnern und dann rächen können. Dass Beatrice und Axl nun aus ihren eigenen „Liebesmotiven“ als Britannier auf der Seite des Sachsen stehen, hätte ein interessantes, moralisches Dilemma werden können, wenn es nicht erst auf den letzten Seiten des Romans thematisiert würde.
So … ist das Ende zugleich absehbar, was Beatrice und Axl angeht (deren wiederkehrende Erinnerungen leider ebenfalls verschwiegen werden) wie offen, denn ob der Nebel des Vergessens dem Land genug Zeit kaufte, dass die Wunden heilen konnten, oder der Hass wieder aufflammen wird, liegt jenseits der letzten Seite, auf der anderen Seite des Flusses, sozusagen.
Tja. Und ich weiß nicht so recht, was ich von diesem Roman halten soll. Die Geschichte des alten Liebespaares erinnerte mich immer wieder an das freundlich-naive Paar aus dem Animationsfilm „When the Wind blows„, das auf die Regierung vertrauend nach einem Atomkrieg langsam stirbt, ohne es sich selbst einzugestehen – und, um es ganz deutlich zu sagen: die Darstellungen dieser beiden Paare rührt und berührt mich.
Ishiguros Sprache ist auch in diesem Roman poetisch, zart und schön, aber die zwischenzeitlichen Persepktivwechsel von personal zu Ich-Erzählern und zurück kommen mir so störend und überflüssig vor wie manch ewig in die Länge gezogener „ritterlicher Dialog“. Die Anklänge an klassische Motive öffnen Assoziationsräume – aber der begrabene Riese, der unterm Vergessen verbrogen war, wacht für mich am Ende nicht mehr auf. Er ist im Nebel der Andeutungen entschlafen, fürchte ich.
Vielleicht wäre hier weniger mehr gewesen; womöglich hätte es nicht nur gereicht, die Erzählung konsequent auf Axl und Beatrice zu konzentrieren, sondern dem Ganzen mehr Tiefe und Kontur gegeben?