Es ist mir lange nicht mehr passiert, dass ich ein Buch nicht aus der Hand legen konnte, dass ich das letzte Viertel einfach zuende lesen musste. Ich hätte nicht schlafen können, wäre ich Kazuo Ishiguros 2005 erschienenen Roman Never Let Me Go nicht bis zum bitteren Ende gefolgt.
Schon während des Lesens erschien es mir eine Art Spiegelentwurf zu The Artist of the Floating World: Während dort die vermeintliche Idylle eine exotische ist und das Dunkel darunter in der Vergangenheit des (realen) imperialen Japans lauert, kontrastiert Never Let Me Go die scheinbare, aber schräge Kindheitsidylle eines englischen Internats auf dem Land mit dem unaussprechlichem, gerade mal angedeuteten Schrecken einer düsteren Zukunft.
Den Roman Science Fiction zu nennen, weil in seinem Paralalleuniversum in den 1990ern menschliche Klone gezüchtet werden, deren einzige Bestimmung es ist, die ’natürlich geborenen‘ Menschen mit Ersatzteilen zu versorgen, ist verfehlt. Wie das technisch funktioniert, was das mit der Gesellschaft der ’normalen‘ Menschen macht, all das lässt Ishiguro außen vor.
Statt dessen konzentriert sich alles auf die Ich-Erzählerin Kathy H., selbst ein Klon, die mäandernd, sich erinnernd, vor und zurück springend, von ihrem Aufwachsen, ihrer Ausbildung, von Freundschaften und Liebe, ihrer Arbeit als ‚Carer‘, als Umsorger und Begleiter von ‚Spendern‘ bis zu deren ‚Vollendung‘ im Dienst einer ihnen stets fern bleibenden Welt drumherum berichtet. Kontakt nach außen gibt es nur zu denjenigen, die selbst professionell mit den Klonen zu tun haben. Andere, ’normale‘ Menschen werden höchstens auf Ausflügen beobachtet, Interaktionen mit ihnen sind jedoch undenkbar.
Wie auch Flucht, Auflehnung undenkbar sind. Dienen Erziehung und Bildung, die doch an geradezu klassische Bildungsideale – mit viel Sport und Kultur, Kreativität – erinnert, hier rein der Zurichtung, dem Gefügigmachen? Die Dinge nur anzudeuten, immer wieder, bis das Wissen einsickert, ohne die Tatsachen je beim Namen zu nennen, gehört jedenfalls zum Grundmodus der Kommunikation in Hailsham, der gelobt-geliebten Schule.
Und es wirkt bis zum Ende. Selbst, als die aberwitzige Hoffnung aufkommt, es könne für wahre Liebende einen Aufschub geben, bleiben die Protagonisten angepasst, arbeiten sie sich im System ab anstatt dagegen an. Und als die Hoffnung zerplatzt, sich als Illusion erweist, ändert das nichts. Was das System von ihnen verlangt, bekommt es, ganz gleich, wie schmerzlich das ist.
Als Leser möchte man schreien, die Figuren aufrütteln, zum Aufruhr anstiften. Deren Schicksalsergebenheit – als sei das, was ein Mensch dem anderen antut, Schicksal, unausweichlich, am Ende gar „gerecht“! – nimmt einem schier den Atem.
Gut, dass das nur ein Roman ist, ein Gedankenspiel, literarisch gekonnt erzählt, mag man denken. Und zugleich kommt man nicht um die Frage im Hinterkopf herum, wie lebte es sich auf der anderen Seite dieser dystopischen Gesellschaft? Würde man hinnehmen, dass denkende, fühlende Wesen, Mit-Menschen, als Ersatzteillager missbraucht werden, dass man ihnen Lebens- und Menschenrecht abspricht, weil sie technisch er- und nicht biologisch gezeugt wurden — selbst, wenn das schon immer so Usus gewesen wäre, man in diese Gesellschaft hineingeboren würde?
Die andere Seite, wie sähe die aus? Und was sagt es aus, das nicht zu wissen, obwohl das doch wir wären, da, auf der anderen Seite?