Gestern lockte mich Bertolt Brechts Leben des Galilei ins Grillo-Theater, wo es in der Inszenierung von Konstanze Lauterbach Premiere hatte: Unsicher, ob ich dafür nach einem langen Tutoriumstag noch Energie hätte, kam ich, bestens unterhalten, den Kopf glücklich voller Ideen und Bildern ging ich danach wieder nach Haus. Ein fast perfekter Theaterabend, durchdacht inszeniert, ungeheuer lebendig auf die abstrakte Bühne (Ann Heine) gebracht vom spielfreudigen Essener Ensemble und mit viel Milch serviert.
Aber der Reihe nach. Die Bühne ist groß, karg, leer und bietet kaum Halt, denn der silbrig-glatte Boden ist doppelt geschwungen. Das lässt mich an die Linsen denken, die Galilei für sein Fernrohr braucht, an die Elipsen der tatsächlichen Planetenbahnen dazu, und natürlich ist’s ein treffendes Symbol für die Schwierigkeit, die verdrehte Wahrheiten für den festen Stand des Menschen bedeuten können. Erst recht, wenn drüber drohend ein gigantisches Weihrauchfass schwingt: was wahr ist und wo man zu stehen hat, das bestimmt immer noch die Kirche und nicht die Vernunft, an die Galilei (Axel Holst) glaubt. Was heißt hier „glaubt“ – man muss doch nur den Beweis mit eigenen Augen sehen …!
Genau das will aber nicht jeder, ja, kann nicht jeder. Inquisition herrscht fast überall in Italien und vor allem da, wo die Futtertöpfe sind, an die Galilei heran will. Dennoch sieht es eine Weile lang so aus, als ließe sich die Wahrheit nicht aufhalten, sie verbreitet sich nicht nur dank der Sternenkarten, die den Kaufleuten mehr Profit durch sicherere Reisen versprechen, sondern vor allem, weil sie Freiheit verheißt. Und genau das darf nicht sein, das kann sich nicht einmal der wissenschaftlich gebildete Papst Barberini leisten. Ausgerechnet er sorgt dafür, dass Galilei widerruft – ein Schlag ins Gesicht für seine Mitstreiter, den kleinen Mönch (unverstellt gespielt von Philipp Noack), Andrea (facettenreich: Alexey Ekimov) und den Linsenschleifer (höchst präsent: Sven Seeburg) und alle andern, die an die neue Zeit glaubten. Allein die fromme Tochter Virginia (erst zart, dann bestimmend: Stephanie Schönfeld) ist froh darum, Vater und Vaters Seelenheil gerettet zu sehen.
Und damit sind wir bei der eingangs erwähnten Milch: Mit ihr wäscht sich Galilei im ersten Bild, als wasche er sich in Unschuld, als gehe es um Wahrheiten, die man mit der Muttermilch aufsaugt – und natürlich ums leibliche Wohl, das ihm so wichtig ist, den Milchmann, dessen Rechnungen zu erwähnen Haushälterin Sarti (zupackend dargestellt von Ines Krug) nicht müde wird. Vielleicht auch um Mutter Kirche, die ihn am Ende zwangsweise in ihren Schoß zurückholt – wo ihn dann Virginia mit (Schillers) „Milch der frommen Denkungsart“ reinwäscht:
Die Milch – ein Regieeinfall von vielen, die Konstanze Lauterbach gekonnt und konsequent einzusetzen versteht, wie etwa das Fallen und Purzeln auf den Schrägen, das drohende Gemurmel aus den Korridoren, das selbst Päpste zu verstören vermag oder auch die zugleich abstrakten und wilden Kostüme, leicht zu verwandeln, immer wieder überraschend anzuschauen. Dosierte Musik (die dazugehörige von Hanns Eisler live gesungen, wie Opernarien und Balkanklänge vom Band), ebensolches Video. Viele Mittel und noch mehr Ideen gut ein und umgesetzt rund um einen starken Axel Holst, der seinem Galilei lebenspralle Glaubwürdigkeit verleiht: so entsteht ein packendes Ganzes, voller Bildern und intelligenter Texte.
Bleiben ein Wermutstropfen – nämlich die Längen und Überdehnungen von Pausen und Text am Ende, die einen Pathos beschwören, den diese Inszenierung nicht nötig hat -, und ein Paradox: würde Brecht, der Erfinder des epischen Theaters, der sein Publikum mit Verfremdungstechniken an zuviel Identifikation kunstvoll zu hindern sucht, sich nun freuen oder grämen, dass wohl nicht nur ich diese Inszenierung seines Stücks als ausgesprochen packend erlebte?