Auktorialer Leser?

Zu den schönsten Seiten des Sommers gehört es für mich, Zeit zum Lesen zu haben. Selbst für die dickeren Schwarten, die mir im Alltag, wo ich ja nicht nur zuhause, sondern auch unterwegs lese, schlicht zu schwer sind. Till Raethers Treibland hat deshalb über ein Jahr bei mir im Wartestand verbracht. Gestern Nacht beendete ich die spannende, aber am Ende dann doch nicht wirklich fesselnde Lektüre ein wenig ratlos — und das obwohl oder gerade weil der Autor mich als Leserin in in eine geradezu auktoriale Position versetzt.

Ein Toter auf einem Kreuzfahrtschiff, gestorben an einem zunächst unbekannten, aber höchst aggressiven Virus à la Ebola, zwei Kommisssare, die man vom Abstellgleis der „Omis“ (ungeklärte Todefälle ohne groß Dringlichkeit) holt und von denen man erwartet, dass sie den Ball flach halten, eine unscheinbare Profikillerin, zwei weitere, allerdings weibliche Opfer des Virus sowie mindestens ein erpressbarer Pharmamensch – sie alle sind nicht nur die Hauptpersonen, alle bis auf den erstgenannten haben auch eine mehr oder minder ausgeprägte, eigene Erzählperspektive.

Nahezu nichts bleibt dem Leser mithin verborgen, schon gar kein drohendes Ende einer Figur. Stellenweise sorgt dieses Verfahren gewiss für Spannung, und da der Plot an sich ja durchaus so interessant wie ein im Hamburger Hafen unter Quarantäne gestelltes Kreuzfahrtschiff ist, war ich glücklich, es urlaubsbedingt mehr oder minder in einem Rutsch zu lesen. Auf den letzten hundert Seiten jedoch las ich mehr und mehr quer – kein gutes Zeichen bei einem Krimi/Thriller, der doch mit Viren, Impfstoffen, illegalen Laboren und dergleichen an sich einer gut gebauten, gründlich erklärenden und dabei idealerweise rasanten Aufklärung bedarf.

Ich fürchte, das in den letzten Jahren (im letzten Jahrzehnt?) immer häufiger verwendete Verfahren, allen möglichen Figuren, die man in irgendeiner Weise für den Plot für relevant ansehen könnte (und sei es auch nur vorübergehend, wie in diesem Fall ein Kapitel aus Sicht eines panamaischen Beamten, der das Amtshilfeansuchen aus Hamburg wegen des unter panamaischer Flagge fahrenden Schiffs im Papierkram seines lahmarschigsten Kollegen vergräbt), eine eigene Perspektive zu geben, ist daran schuld. Natürlich gibt es Geschichten, die sich so und nur so erzählen lassen, die ihre Spannung und ihren Reiz gerade aus dem steten Wechsel der Blickwinkel ziehen. Bei den allermeisten Thrillern, die auf diese Weise erzählt werden, steckt keine Planung, kein Muster, kein Konzept hinter den Wechseln, sondern es wird schlicht der vermeintlich leichteste Weg gewählt:

Ein Profikiller soll perfekte, also unentdeckte Arbeit leisten? Okay, dann wird halt einfach das Morden aus seiner bzw. in diesem Fall eben ihrer Sicht erzählt. Ein Verdächtiger soll früh eingeführt werden, ohne viel über den eigentlichen Fall zu verraten? Prima, stricken wir uns doch einen Prolog, der möglichst geheimnisvoll mit Erpressungsgedanken und den Andeutungen allerlei düstere Geheimnisse von diesem oder jenem garniert wird. Etc.

Schade. Das Buch hatte Potenzial, nicht zuletzt durch seinen hypersensiblen Hauptermittler Danowski, der geradaezu gegen seinen Willen in diese Geschichten gezogen wird, und sich doch am Ende als derjenige erweist, der alles aufklärt – abgesehen von den Morden der Profikillerin natürlich, bei denen es aber auch gereicht hätte, es offen zu lassen, inwiefern diese nun Unfälle oder Morde waren. Denn so, wie dieses Buch tatsächlich erzählt ist, interessieren mich ohnehin diverse Details am Ende eh nicht mehr – wer hier was aus Profitgier oder dem Wunsch, sich zu profilieren tat, wer längst vergangenes Unrecht wiedergutmachen wollte und wer sich seiner Gattin entledigen, wen kümmert’s? Mich freute, dass Danowski überlebte, und ich an zweieinhalb von drei Tagen eine unterhaltsame Lektüre in Händen hielt.

Ergo: Hamburgliebhaber und Quarantänevorschriftsinteressierte, Urlaubsleser und wem immer zweidrittel bis dreiviertel gut statt wirklich durch und durch gelungen reicht, der mag’s lesen und damit glücklich werden. Alle anderen, aber insbesondere Autoren auf der Suche nach guten Beispielen für Perspektivkonstruktionen sollten die Finger davon lassen. 😉

 

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