Es fängt schon mit der Frage an, wie ich das Buch nennen soll: Ist The Other Wind von Ursula K. Le Guin so etwas wie ein Nachtrag zu ihrem Earthsea Quartett? Oder wird durch diesen letzten Roman daraus einfach ein Quintett? Überhaupt: Wie kann ein Buch, das über weite Strecken eine ausgedehnte Exposition, eine mäandernde Landschafts- und Geschichtsbeschreibung der fantastischen Art, aber kein Roman, keine Erzählung im Sinne vorangetriebener, vorantreibender Handlung ist, so fesselnd sein?
Wer mich ein bisschen kennt, der ahnt: Wenn ich mir so viele Fragen stelle, habe ich um so weniger Antworten. Merkwürdigerweise spielen die angedeuteten formalen Kriterien für mich beim Genuss dieses Romans keine Rolle. Es kratzt mich bei Le Guin ja auch nicht, dass ansonsten Fantasy wahrlich nicht mein Lieblingsgenre ist. Ob sie die Welt der Magier und Drachen von Earthsea nun über drei, vier, fünf oder meinethalben siebzehndreiviertel Bücher hinweg entwickelt, wen kümmert es, so lange man nur an die Bücher kommt und Zeit hat, sie zu lesen? Und angesichts von Le Guins sprachlichen Fähigkeiten ist es dann absolut belanglos, wie viel sie davon zur Entwicklung einer Handlung nutzt oder wie viel sie darauf verwendet, Landschaften auszubreiten, fremde Kulturen zu erschaffen und vor allem ihre Figuren zu schildern, um dann in deren Wahrnehmungen, deren Ängste, Sehnsüchte, Träume und Albträume einzutauchen:
Alder, der Mender, der Dorfmagier, dessen große verstorbene Liebe ihn zur Mauer zwischen den Toten und den Lebenden zieht, der alle in den Strudel der Veränderung zu ziehen scheint, sie aber letztlich alle rettet; Tenar, die während des ganzen Buches vermisst, was sie nicht mehr hat (nämlich gewisse Aspekte ihres früheren Lebens auf Karg) und was sie noch nicht wieder hat (ihr Leben mit Ged auf Gont); Tehanu, die endlich der Drache wird, der sie schon immer war, und die zunächst ganzkörperverschleierte, seekranke, später immer weisere und mutigere Prinzessin aus Karg, die am Ende an Lebannens Seite Earthseas Königin sein wird – sie alle hat Le Guin eingesponnen (und eingespannt, aber das macht nichts) in ein Netz aus letzten Fragen, denen nach Leben und Tod, nach Freiheit und Sinn, eben dem, was menschliches Dasein ausmacht.
Große Worte, großes Vorhaben – und bei den meisten anderen Autoren eine große Gefahr, in Pathos und Kitsch abzugleiten. Nicht so bei Le Guin … bloß dass ich absolut nicht weiß, wie sie’s anstellt. Macht aber nix, denn, wie gesagt, all das tut zumindest meinem Lesegenuss keinen Abbruch. 😉