Worin liegt der Wert eines Menschen und wenn er sich bemessen ließe, was folgte daraus? Die Gesellschaft, in der Ninni Holmqvists brillanter Roman Die Entbehrlichen spielt, scheint das ganz genau zu wissen: Wertvoll sind Menschen, die Familie haben und/oder die erfolgreich im Beruf sind. Alle anderen, kinderlose, alleinstehende, nicht so erfolgreiche Menschen sind es nicht. Und wenn sie ein gewisses Alter (jenseits der Fruchtbarkeit) erreichen, kommen sie in eine Reservebankeinheit …
„Ja, es gibt ziemlich viele Intellektuelle hier. Leute, die Bücher lesen.“ „Aha“, sagte ich. „Leute, die Bücher lesen“, fuhr er fort, „tendieren dazu, entbehrlich zu werden. In hohem Maße.“ „Ach so“, sagte ich. „Ja“, sagte er.
Ein wenig reizt es mich schon, dieses Zitat einfach so stehen zu lassen. Schließlich ziert es auch das Buchcover; sollte es also nicht für sich stehen können?
Was den Roman und den Impuls, zu ihm zu greifen, ihn zu lesen angeht, stimmt das gewiss. Aber da ist ja auch noch meine eigene Reaktion auf das Buch, das ich gestern mehr oder minder in einem Zug las und das mich bis in meine Träume begleitete – oder wohl eher verfolgte.
Einerseits ist die Geschichte so klar, bestimmt und freundlich, wie man es von Schweden samt Sozialstaat erwartet – niemand probt den Aufstand, keiner der „Entbehrlichen“ wehrt sich gegen sein Schicksal, das in der Einheit in der Teilnahme an medizinischen und anderen Humanexperimenten sowie in Organspenden besteht und schließlich in der „Endspende“ gipfelt. Man lebt im Luxus und ist doch nur Reserve für die Benötigten, die mit den Kindern, die mit Familie, die mit Geld, Erfolg und Karriere. Zugleich betonen die Figuren immer wieder, wie richtig das sei und dass man doch in einer Demokratie lebe …
Andererseits ist es finster, verschlungen, böse. Denn wer die da draußen sind, die Prachtmuttis und stolzen Väter und all die anderen, die als benötigt gelten, das erfahren wir Leser nicht. Wir sind mit der Ich-Erzählerin – einer kinderlosen, offenbar nicht erfolgreichen Schriftstellerin, als deren letztes Werk sich der Roman am Ende zeigt – bis auf einen ganz kurzen Abstecher ausschließlich in der Einheit, abgeschottet von allen anderen. Und was das Personal, das hier arbeitet, sie hegt und pflegt wie ein Bauer sein preisgekröntes Vieh, nun von den Insassen wirklich unterscheidet, bleibt im Dunkel.
Und wer sind die, die der Erzählerin, als sie sich plötzlich schwanger findet (und der Vater des Kindes fatalerweise genau an dem Tag seine Endspende macht … ), zu helfen suchen? Privatsphäre in der ansonsten total überwachten Einheit (nicht, dass so ein Reservebankmensch sich was antut und die schönen Organe, die Benötigte benötigen, verschwendet) bietet man ihr an, eine Schlüsselkarte steckt man ihr zu. Statt sich zwischen Abtreibung und Spende des Fötus oder Austragen des Kindes mit anschließender Freigabe zur Adoption zu entscheiden, könnte sie fliehen.
Allein – wohin? Ganz offensichtlich beginnt Überwachung und vor allem gesellschaftliche Kontrolle ja nicht erst in der Reservebankeinheit. Sie beherrscht das Leben aller, immer und überall. Alle müssen sich als nützlich, benötigt erweisen, versuchen, immer früher Kinder zu bekommen oder wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Wo sollte also die Ich-Erzählerin als Mutter ohne Papiere, ohne Karriere, ohne Familie hin? Und wie würde ihr Kind in diese Welt hineinwachsen – benötigt als Kind einer Entbehrlichen auf der Flucht?
Das Ende ist so konsequent wie bitter – und es klingt nach, lange, nach dem das Buch zugeklappt ist. Denn alt werden wir alle, alt und krank, und die Ökonomisierung auch des Gesellschaftlichen, Sozialen, hat ja längst ihre Krakenarme ausgestreckt. Wieviel Zeit bleibt also noch, bis es zu einer totalen Umarmung (aka Fesselung) des Individuums durch die vermeintlichen Ziele der Gemeinschaft, die tatsächlich jedoch vom Imperativ der Kosten/Nutzen-Rechnerei bestimmt werden, kommt?