Die Zutaten der Essener Premiere von Ulrich Alexander Bowschwitz‚ „Der Reisende“ in der Fassung von Hakan Savaş Mican am Essener Grillo-Theater sind vom Feinsten: Ein großartiges Ensemble, mitreißende Musik, geradezu hypnotische Videos und ein, nein sogar zwei Textvorlagen, die viel Gedankenfutter bieten. Denn Mican ergänzt Boschwitz‘ Roman mit Auszügen aus seinem eigenen Reisetagebuch, das bei den Vorbereitungen der Inszenierung entstand, sodass deutsche Geschichte aus jüdischer Sicht auf deutsche (und europäische) Gegenwart aus türkischer Sicht trifft.
Boschwitz schrieb die Geschichte vom jüdischen Kaufmann Otto Silbermann (Mathias Znidarec), der nach der sogenannten Reichskristallnacht zum Flüchtling wird, jedoch das Land nicht verlassen kann und statt dessen fortwährend kreuz und quer mit Zügen reist, bis er am Ende irre wird, noch unter dem Eindruck der Novemberprogrome, während er selbst flüchtete. Das in Zeiten zunehmend rechter Politik und angesichts wachsender Erfolge rechtsextremer Parteien auf die Bühne zu bringen und mit gegenwärtigen Ausgrenzungserfahrungen zu ergänzen, macht Sinn. Genau wie es passend scheint, die Flucht auf der Bühne um „Bilderfluchten“ – will sagen: gut ausgewählte, kunstvoll arrangiertes Videomaterial, in dem mehrfach gespiegelte Landschaften ineinanderlaufen oder das Autos, Schiffe oder Fußgängern in Bewegung zeigt – zu erweitern.
Doch warum beginnt der beinahe dreistündige Theaterabend mit einer rund 15-minütigen Publikumsansprache durch den Schauspieler Mathias Znidarec, der dabei über dieses oder jenes (Wim Wenders‘ „Lisbon Story“ etwa oder den Optimismus der 1990er Jahre) plaudert, während er sich nach und nach in die Rolle begibt? Als Zuschauerin brauche ich die Erklärung, dass es hier um zwei Prosatexte geht, und all das andere Vorgeplänkel nicht. Warum nicht gleich in die Geschichte von Silbermann einsteigen oder mit der Reise Micans beginnen?
„Der Reisende“ bietet so viele starke packende Momente. Wenn etwa Silbermann, der auf seiner aussichtslosen Flucht als Fremder im eigenen Land in seiner zunehmenden Verzweiflung feststellt, er sei nun „ein Geschäft für seine Feinde und eine Gefahr für seine Freunde“, dann fühlt sich das wie der Faustschlag eines depressiven Boxers an. Die immer müderen Anrufe bei seinem Sohn (Alexey Ekimov), der in Paris lebt und ihm eine Einreisebewilligung besorgen soll, das aber nicht schafft, berühren. Und die starke, beklemmende Szene, wenn Silbermann es einmal bis an die belgische Grenze schafft, dort jedoch keinen Einlass findet – wie sehr er auch bitten und betteln mag, die dunkle Wand auf der Hinterbühne öffnet sich bestenfalls um einen leuchtenden Spalt, der die Freiheit erahnen läst, durch den sich der Flüchtende jedoch nicht zu quetschen vermag, die bleibt lang über den Abend hinaus im Kopf.
Gewiss, die zunehmende Fremdheit, die Mican auf seiner Europareise 2024 erlebt, weist Parallelen auf, wer wollte das angesichts der politisch immer mehr nach rechts und ins Autoritäre gehenden Ausrichtung vieler Parteien und Regierungen auf diesem Kontinent bestreiten. In seinen Überlegungen zu Heimat, Herkunft und eben Fremdheit erkennen sich vermutlich manch andere wieder, genau wie ich. Aber warum diese durchaus klugen Texte an den Stellen im Stück auftauchen, wo sie präsentiert werden, hat sich mir nicht erschlossen.
Ähnliches gilt auch für die Musik: Jedes einzelne (an)gespielte Stück ist für sich genommen hörenswert. Zusammen mit den Videoprojektionen (Benjamin Krieg & Sebastian Lempe) entwickeln sie oft einen hypnotischen Sog, der mich packt, worüber ich dann allerdings den Text und die Handlung auf der Bühne zeitweilig gar nicht mehr mitbekomme. Doch wenngleich die Musik den Abend belebt, ihm Drive verleiht, ist die Rückbindung ans Stück und der Zusammenhang zu den Szenen, in denen sie gespielt wird, in meinen Augen oft nicht zu erkennen.
Am Ende sitze ich nun da und bin ratlos: Die Teile dieses Abends sind jedes für sich genommen sehens- wie hörenswert, ergeben jedoch für mich kein Ganzes. Ich würde jederzeit eine Ausstellung mit Videoinstallationen der beiden Künstler, eine Lesung aus Hakan Savaş Micans Reistagebuch und erst recht einen Liederabend mit Lene Dax (ihre Stimme war für mich die große Überraschung des Abends) besuchen. Boschwitz‘ Roman ist gleich auf meiner Leseliste gelandet. Aber so wichtig Thema und Anliegen dieser Inszenierung sind, ein zweites Mal würde ich sie nicht anschauen wollen – was aber niemand vom Erstbesuch abhalten sollte.