Erinnerungsdinge

Es ist schon eine seltsame Sache mit Erinnerungsstücken – ein Gegenstand wird zum Symbol eines kleineren oder größeren Komplexes aus Ereignissen und Emotionen, Erfahrungen gar. Ein solches Ding zu verlieren, was ja im Leben immer wieder vorkommt, zumal sich Erinnerungen gern an alles Mögliche und auch Alltägliches haften, kann sehr schmerzhaft sein. Aber manchmal kommt unerwartet auch ein solches Ding zu einem zurück – oder doch sein Brüderchen, sozusagen:

Ein Schlüsselanhänger in Form eines zerlegbaren. grünweißen Plastikroboters

Doch der Reihe nach. „Mein“ Robbi ist eine Kindheitserinnerung, die untrennbar mit meinem Vater verbunden ist – dem „du“ im folgenden Auszug aus meiner unveröffentlichten Geschichte „Scherbenzeitmaschine“;

[…. Wie] Robbi, der winzige Plastikroboter, ein Schlüsselanhänger wohl, denn beim Gedanken an ihn meine ich automatisch eine kurze, gerissene Schlaufe aus lauter kleinen Metallperlen zwischen Daumen und Zeigefinger zu fühlen. Aber das ist nichts gegen das Loch in der Magengrube, diesen erinnerten und doch so lebendigen Schmerzkern, der eine Welle werden will, die mich erfassen und in Tränen ausbrechen lassen wird. Verzweiflung über einen Haufen bunter Plastikteilchen, die nicht mehr zusammengehen wollen. Denn Robbi ist nicht irgendein Anhänger, den du von irgendwoher mitgebracht hast –, er ist obendrein ein vielfarbiges Puzzle und damit für mich ein echtes Wunder inklusive Herausforderung. Leider eines, das über meine kindlichen Fähigkeiten hinausging, sodass jeder Versuch, es zu lösen, zum Drama wurde: Ich habe den kleinen Kerl zerstört. Er ist kaputt, ein schrecklicher Anblick, als hätte man ihn zersägt, und es ist meine Schuld, meine ganz alleine!

Viele Male versuchte ich es dennoch, und jedes einzelne Mal scheiterte ich daran. Nie gelang es, diese Herausforderung zu meistern, nie. Immer musstest du ihn und mich retten. Meist am Abend, nach einem langen Arbeitstag. Bestimmt auch mal am Wochenende. Bis … bis wir alle drei es nicht mehr aushielten und du mit viel Geduld, Zweikomponentenkleber und dem winzigen Spatel das Puzzle für immer gelöst hast. Von da an war Robbi kein Rätsel, keine Herausforderung und auch kein Wunder mehr, sondern ein plastikgeklebtes Sinnbild deiner Fürsorge. Bis er irgendwann am Horizont der Zeit verschwand, da, wo neben zerbrochenen Teetassen, verblassten Kinderfußbällen und dem kleinen Elch, den du von deiner letzten großen Reise mitbrachtest, bevor er mich unbemerkt bei einer Fahrt in die Stadt verließ, noch zig andere Gegenstände als bloße Erinnerungen weiterexistieren und doch so viel mehr sind. […]

Aus: Scherbenzeitmaschine (unveröffentlichte Erzählung aus dem „Familienalbum“)

Und jahrzehntelang war es genauso. Robbi gab es in meiner Erinnerung und auch in denen meiner Eltern, doch als Gegenstand war er fort, verloren. Bis ich kurz vor Ostern ein Päckchen einer befreundeten Autorenkollegin geschickt bekam und zwischen den Büchern Robbis Brüderchen fand. Was für eine Riesenüberraschung! Nicht nur, dass sie den Roboter aus der Geschichte erkannt hatte (die ich ihr zusammen mit einigen anderen als Preview geschickt hatte), und sich in dem Ich des kleinen Mädchens, sondern sie fand ganz real Robbis Brüderchen beim Ausräumen ihres Elternhauses. Auch ihr Vater hatte ihn mitgebracht, von der Hannover Messe, „der Criminale meines Vaters“, wie sie so treffend schrieb und wie ich es für meinen Vater nicht hätte treffender sagen können. Und auch sie war als Kind an dem Puzzle im Roboter immer wieder gescheitert.

Nun sind wir beide nur zwei Jahre auseinander, dieselbe Generation also, und unser beider Väter waren Ingenieure, die deshalb womöglich abwinken würden, wenn ich das jetzt wunderbar nenne. Statistik, Wahrscheinlichkeit, Zufall, sicher, so könnte man das nennen. Und doch – wer hätte gedacht, dass dieses kleine Werbegeschenk (denn als das muss er ja wohl ursprünglich gedacht gewesen sein, der Roboterschlüsselanhänger) nach Jahrzehnten zu einer Art Verbindung über die Zeit, ein winziger Generationengefühlsstifter wird?

Eben. Und deshalb Zufall, Statistik und Wahrscheinlichkeit hin oder her, ich freu mich wie eine Schneekönigin darüber, dass nun Robbis Brüderchen auf meinem Schreibtisch steht. 🙂

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