Schon in durchschnittlich (dys)funktionalen Familien sind gemeinsame Feiern recht oft mit Streit und allerlei Verletzungen verbunden. Wie so etwas ausgehen kann, wenn sich unter der ach-so-glatten Oberfläche Abgründe voller Gewalt verbergen, zeigt Karsten Dahlems Inszenierung von „Das Fest“ (nach dem Drehbuch von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov), dessen Premiere soeben den Auftakt der neuen Spielzeit am Essener Schauspiel machte.
Es beginnt mit einer Stimme im Dunkeln, die von einem versteckten Brief spricht und den ersten Akt, die Ankunft der Gäste ankündigt, die sich daraufhin prompt vorm eisernen Vorhang versammeln bzw. aufreihen. Und wer hier noch denkt, Onkel Leif (Sven Seeburg), der die Hose fallen lässt und dabei ausruft, einen Scherz dürfe man ja noch machen, während ein anderer herbeistürzt, ihn wieder zu bekleiden, der sei das einzige Problem, der muss sehr naiv sein oder Waise oder zufällig tatsächlich in eine heile Familie hineingeboren sein. Allen anderen dürfte recht bald klar sein, dass die Stimme vom Anfang Linda gehört, der toten Schwester (packend und berührend: Trixie Strobel), und diese natürlich nicht tragisch bei einem Unfall oder an einer Krankheit verstarb, sondern deren Beerdigung für die letzte Zusammenkunft dieser Familie des Hotelbesitzers und Patriarchen Helge (auf eigene Art jovial und aggressiv zugleich: Jens Winterstein) sorgte.
Heute ist der Anlass dessen 60. Geburtstag und mithin ein vermeintlich fröhlicher, wäre da nicht die zumeist beschwiegene tote Linda und diese Nervosität aller anderen Anwesenden. So richtig wohl fühlt sich hier niemand und frei schon gar nicht. Vater Helge herrscht, er zieht die Fäden, das scheint auch das Bühnenbild (Claudia Kalinski) zu sagen, wenn mit Beginn des eigentlichen Festes alle Wände verschwinden und die Möbel an Seilen über allem schweben, baumeln, hilflos, sozusagen.
Christian (verloren und getrieben in einem: Philipp Noack), Helges ältester Sohn und Lindas Zwillingsbruder, will sich endlich aus dieser Abhängigkeit befreien. Seine Rede auf den Jubiliar ist nicht die erwartet Liebes- und Lobesrede, sondern die Abrechnung eines Missbrauchsüberlebenden mit dem Täter.
Das – plus eine Familie, die lieber leugnet, lieber nichts wissen und schon gar nichts gewusst haben will – ist im Grunde auch schon der Inhalt des Stückes, das Bo Hr. Hansen nach dem Drehbuch von Tomas Vinterberg und Mogens Rukov geschrieben hat. Karsten Dahlem inszeniert es teils hochgradig filmisch und ausgesprochen musikalisch (herausragend: das Geysir Quartett unter der Leitung von Hajo Wiesemann), was oft zutiefst berührende Momente erzeugt ganz ohne Worte; teils chorisch, aufgereiht, überdreht, zu laut, wieder und wiederholt, was für gewisse Längen sorgt. Dass sich Christian nach der ersten Rede zur (x-te) Entschuldigung von seinem Vater zwingen lässt, obwohl doch dieser der Schuldige ist, zeigt dessen Macht über ihn und wie schwierig es ist, diese zu überwinden. Dass ihn danach seine tote Schwester überzeugt, es wieder mit ihm aufzunehmen, macht Sinn. Aber was sollen alle weiteren Wechselfälle, all das Hin und Her mit oder ohne Geschrei danach? Da sich nichts am Eigentlichen ändert und das Publikum doch ohnehin weiß, Christian ist ohne Zweifel im Recht, die anderen im Unrecht, und dann ist da ja auch noch Lindas Brief, macht das wenig Sinn, erzeugt lediglich Längen und Wiederholungen, die es nicht braucht.
Und das wiederum macht den Schluss des Ganzen zum Problem. Nachdem endlich der Brief vorgelesen ist, nachdem endlich Helge gegenüber seinemSohn Christian die Schuld eingestand, aber natürlich nicht die Frage nach dem „Warum?“ beantworten kann, nachdem sich die tote Linda endlich zärtlich, versöhnt von ihren Geschwistern verabschiedet hat, sitzt der Rest des Ensembles verstreut-verloren auf der Bühne und jeder zitiert Aussagen, mit denen ein Täter sein Opfer zum Schweigen bringt, bevor mitten in einem Satz das Licht ausgeht und — nach einer langen Pause das Publikum mit seinem Applaus (und verdient reichlich davon) selbst für das Ende sorgt.
Das kann man so machen und man kann, ja man sollte es sich ansehen. Zugleich muss ich als Autorin, Dramatikerin und vor allem als Gewaltüberlebende, die einem ihrer Täter die Frage nach dem „Warum?“ gestellt hat, feststellen, dass dieser Moment des Stückes der perfekte Schluss gewesen wäre. Eben weil es auf diese Frage keine Antwort gibt und keine geben kann.