Eigentlich ist es doch ein Glück: alt zu werden. Trotzdem tun wir uns schwer mit dem Altern. Muss das so sein? Kann das nicht auch anders gehen? Elke Heidenreich stürzt sich in ihrem kurzen Buch „Altern“ (2024 erschienen bei Hanser Berlin) mit all ihrer Erfahrung, der gelebten wie der erlesenen, ins Thema und beschenkt die Leser:innen (sorry, das musste sein … ;-)) mit einem wunderbar wilden Ritt.
Der Anfang mit den beiden komplett gegensätzlichen und wohl dennoch jeweils in sich schlüssigen, nicht gelogenen Versionen ihres Lebens – eine „am Sand“ und voller Sorge, die andere glücklich und voll Dankbarkeit – setzt einerseits den leicht rotzigen, trotzigen Ton: „So bin ich eben, lebt damit!“ und weist andererseits einen lebensklugen Weg. Die Dinge, die uns im Leben begegnen, mögen wir nicht wählen können, die Haltung, mit denen wir dem Leben begegnen, können wir sehr wohl bestimmen. Dann also los, mit Mut und Neugier, mit Offenheit und Lust aufs Leben, Lust auch am Genuss.
So also geht es los. Was dann folgt, ist eine Suche und Tasten nach dem, was Altern eigentlich ist, wie sich die Erwartungen im Lauf der Zeit ändern (die ans Altern durch die Zeitalter und die eigenen dazu) und welche Erfahrungen man tatsächlich macht. Oft geht es um Zerrbilder der Gesellschaft, um veraltete oder schon immer falsche, ungerechte Erwartungen ans Altern, um die dummen Unterschiede, die hier bei Frauen und Männern gemacht werden und darum, dass man sich nicht dran halten, sich dem nicht beugen muss. Dass das Alter auch und gerade Freiheit bedeuten kann, nämlich die Freiheit, Erwartungen aller Art zu ignorieren und zu sein, wie man eben ist. Ich würde zwar sagen, das macht immer Sinn (denn, mal ehrlich, wem bringt es was, wenn wir uns verbiegen, wir einander am Ende nur so begegnen wie wir annehmen, dass die anderen uns haben wollen? Wen macht das glücklicher, was macht das besser auf diesem Planeten?), sehe aber durchaus ein, das wird leichter mit dem Alter. Allein, weil man sich selbst nun viel besser kennt und schon deshalb weniger nach Vorbildern (oder Moden oder dergleichen) schielt.
Zugleich lässt sich natürlich nicht leugnen, beim Alter(n) reden wir stets auch von der sich verkürzenden Zeit. Abschied und Tod werden immer unübersehbarer (selbst in unserer Gesellschaft, die beides so gerne und gründlich verdrängt).
„Die Strecke, die mir noch bleibt, ist sehr viel kürzer als die Strecke, die schon war, als wüsste ich das nicht“, schreibt Heidenreich auf Seite 64. „Macht mir das Angst? Nein. Weder das Altern noch das Sterben, schon gar nicht der Tod. Gegen Schmerzen kann man etwas machen, der Verfall ist normal, der Tod gehört zum Leben. Milliarden vor mir haben das geschafft, oft unter erbärmlichen Umständen, da werde ich diesen Schritt, diesen Übergang wohl auch noch schaffen.“
Das liebe ich am Lesen: überraschend meine eigenen Gedanken wiederfinden. Ich mache mir auch gerne klar, dass Dinge, die ich vielleicht gerade zum ersten Mal erlebe wie solche, die mir womöglich wiederholt einen Moment lang Angst machen, von Anfang zum Leben gehört haben. Nicht nur zu meinem, sondern zu dem jedes Menschen, oft sogar dem jedes Lebewesens. Da werde ich ja wohl kaum die erste sein, die das nicht hinkriegt, sage ich mir dann. Und wie schön zu lesen, dass mindestens eine andere eben diesen Gedanken auch hat (wobei ich sicher bin, wir beide sind nicht die ersten und werden nicht die letzte sein …).
Es gäbe so viele Dinge aus den gerade mal 111 Seiten dieses Buches, auf die man genauer eingehen, die man zitieren könnte. Allein all die wunderbaren Zitate anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller! Ein Verzeichnis der zitierten Bücher, nicht aus wissenschaftlichen Gründen, sondern um leichter nachschauen zu können, wen oder was ich nach dieser Lektüre nun gern als nächstes zur Hand nehmen könnte, das ist das einzige, was mir fehlt. Allerdings könnte ich das Büchlein ja auch leicht ein zweites Mal lesen, mit Stift und Block bewaffnet, und alle Zitate notieren und mir eine Leseliste anfertigen. Warum eigentlich nicht?
Ein Zitat muss aber doch noch sein. An Mascha Kaleko komme ich immer so schlecht ohne vorbei:
Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tod derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Bei Heidenreich findet sich das Gedicht übrigens auf S. 96, unter der Verzweiflung über all die Totenfeiern und Beerdigungen unerträglicher Art, die nun immer mehr Raum in ihrem Leben einnehmen. Und analog der doppelten Lebensbetrachtung zum Einstieg des Buches leitet sie dessen Ende hier mit zwei gegensätzlichen Abschiedsvarianten ein. Nach dem ersten Plan soll es alles ganz im Stillen geschehen und ihre Freundin die Welt erst lange, nachdem die Asche in einem Friedwald verstreut wurde (damit ihr junger Hund sie besuchen kann) davon erfahren, à la „Ach, die liest nicht mehr, die ist doch schon tot!“ (S. 97). Der zweite Plan dagegen ist eine selbstgeschriebener Nachruf, der sich gewaschen hat, schleudert sie darin doch der Menschheit ihre Empörung über deren Mittelmäßigkeit entgegen.
Was für ein spannender Gedanke. Und wie logisch, wie konsequent: wenn ich die Haltung zu meinem Leben in der Hand habe, warum dann nicht auch die zu meinem Tod in die eigene Hand nehmen?
Fast bin ich versucht, über meinen Nachruf nachzudenken. Oder sollten wir gleich ein Gesellschaftsspiel daraus machen und es gemeinsam tun? Am Ende trifft es uns doch alle. Das Altern. Und der Tod.
Aber jetzt brauche ich erstmal meinen Kaffee und ein Frühstück.