Wortzeitkapseln

„Jetzt ist es mir nicht einmal gelungen, auch nur den ersten Gedichtband der Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2020 zu ihren Lebzeiten auszulesen“, war der erste Gedanke, der mir in den Kopf schoss, als ich am 13. Oktober 2023 von ihrem Tod aus den Nachrichten erfuhr. Heute dann las ich mit „Horses“ das letzte Gedicht aus „The First Four Books of Poems“, der 1995 bei Ecco erschien und ihre frühen Werke aus den späten 1960ern bis Mitte der 1980er enthält.

Das Cover von Louise Glücks "First Four Books of Poems"

Zugleich spröde und intim, nahbar und abweisend, hochgebildet und höchstpersönlich, so tritt mir Louise Glück in ihren Gedichten entgegen. Helden der klassischen Sagenwelt treffen auf das Leben einer amerikanischen Frau, auf das Aufscheinen der freien Liebe, Mutterschaft behauptet hier genauso ihren Platz wie Gelehrsamkeit und manchmal könnte man meinen, vor der Bedeutung und Größe der Landschaft(en) verblasst alles andere – so ließen sich für mich die Themen aus „Firstborn“ (1968), „The House on the Marshland“ (1975), „Descending Figures“ (1980) und „The Triumph of Achilles“ (1985) grob skizzieren.

Mal funkelt und schillert die Sprache, dann wieder bleiben die Bilder, die mit ihr gezeichnet werden, wie in geheimnisvolle Nebel gehüllt. Ohne dass ich sagen könnte, warum, las ich sie als Zeitgenossin meiner Mutter, da wehte Vertrautes und dennoch leicht Fernes mit. Schwer zu fassen, was mich an ihr fasziniert – sonst ist es ja in der Lyrik oft, dass man sich vom Gedicht (oder der Dichterin) erkannt fühlt, als hätte da ein anderer ausgesprochen, was man selbst im tiefsten Inneren fühlt, doch bei Glück bleibt eine Distanz und ein Geheimnis, als sei sie eine Diva, die genau kontrolliert, wem sie wie viel von sich zeigt. Was aber etwas Gutes ist, sie macht es niemand leichter, als nötig, und biedert sich erst recht nicht an.

Wie etwa in ROSY:

When you walked in with your suitcase, leaving

the door open so the night showed

in a black square behind you, with it’s little stars

like nailheads, I wanted to tell you

you were like the dog that came to you by default,

on three legs: now that she is again no one’s,

she pursues her more reliable relationships

with traffic and cold nature, as though at pains

to wound herself so that she will not heal.

She is past being taken in with kindness,

preferring wet streets: what death claims

it does not abandon.

You understand, the animal means nothing to me.




Louise Glück, „The First Four Books of Poems“, Descending Figures, Lamentations, p. 142

Wie bedacht und bewusst sie Worte und Bilder setzt, das Ganze mit Assoziationen und Emotionen auflädt, nur um in dieses Gebilde mit dem letzten Satz am Ende hineinzustechen wie in einen Luftballon, sodass der Knall mich beim Lesen aus der Behaglichkeit des Einverstandenseins aufschreckt, ist schlicht grandios.

Auch, wenn ich noch reichlich Werke von Louise Glück zu entdecken habe, ich weiß jetzt schon, dass ich sie vermissen werde.

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