Und weiter geht es mit meinem Versuch, meiner eigenen Lektüre hinterher zu schreiben. Diesmal mit drei Büchern aus männlicher Feder in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Los geht es mit Robert Musils Nachlass zu Lebzeiten, das 1936 erstmals erschien.
Ein kleiner, schmaler Band, in meinem Fall die günstige Reclam-Ausgabe, aber was für ein großartiger Inhalt. Ja, mag sein, dass man die Essays und Erzählungen, die Beobachtungen und Überlegungen, die darin versammelt sind, auch als ‚Übungen‘ für größere Werke der österreichischen Autors betrachten kann. Aber, ganz ehrlich, auf mich haben Texte wie „Die Maus“ oder „Die Jagd“ stärkeren Eindruck gemacht als die Lektüre seines Debütromans Die Verwirrungen des Zögling Törleß, die allerdings auch schon viele Jahre zurückliegt. Dennoch, in der kurzen Form, so will es mir scheinen, ist man schreibend zu größerer Präzision und höherer Verdichtung in der Lage, und lesend bringt man nictz nur größere Konzentration mit, da man zumeist den ganzen Text auf einmal liest, geht auch nichts in der Zeit verloren.
Wobei das mit der Zeit und Musil ohnehin so eine Sache ist. Seine genaue Beobachtung scheint ihm vorwegnehmend Einblicke in den kommenden Nationalsozialismus zu ermöglichen. Die Veränderungen, die er an Individuen und in der Gesellschaft wahrnimmt und in Worte kleidet, ist dabei zugleich oft erschreckend modern, sodass ich mich lesend oft fragte, wie würde Musil über unsere heutige Zeit gedacht und geschrieben haben? Was wären unsere Verrohungen, was wären unsere Verbiegungen, die ihm auffielen, und zu welchen Figuren und Geschichten würden wir werden?
Der Junge. Eine afrikanische Kindheit von J.M. Coetzee erschien im Original Boyhood. Scenes from a Provincial Life ursprünglich 1997. Dieses autobiografisch inspirierte Buch des Nobelpreisträgers J.M. Coetzee über seine Kindheit in Südafrika unter den Apartheidsbedingungen zeichnet sich durch einen ähnlich unbestechlichen und unsentimentalen Blick aus. Der Junge, der Coetzee selbst ist, ist ein ungewöhnliches Kind mit besonderer Sensibilität, ein Einzelgänger, der lieber schaut als teilnimmt, ein Kind voller Ängste auch, aber vor allem ein Kind, das aus seiner eigenen Perspektive die Welt der Erwachsenen wahrnimmt. Einerseits sind viele Gegebenheiten bestimmend, gelten auch ihm als ’normal‘ (wie der Stadt-Land-Gegensatz, das eigenartige Verhältnis der Eltern), andererseits befindet er sich oft auch ungewollt in Opposition zu seiner Umwelt (indem er die Engländer und nicht die Buuren verehrt, sich versehentlich zum Katholiken erklärt und dadurch jüdische Freunde bekommt, weil diese ebenfalls keine „Christen“ sind). Und dann sind da die anderen Geheimnisse, wie etwa das komplexe Verhältnis zu seiner Mutter oder seine Betrachtung von Farbigen und Schwarzen und deren ungerechter Behandlung und rassstischer Ausgrenzung im Apartheidstaat. Ein schmales Buch, schwer nachzuzeichnen, wie ich gerade merke, das mich aber nachhaltig beeindruckt hat.
Der Pianist und Autor Ketil Bjornstadt bezeichnet sein 2009 als Damen i dalen erschienenes Die Frau im Tal dagegen ausdrücklich als Roman. Darin flieht ein junger Pianist nach dem Selbstmord seiner wesentlich älteren Frau während seines Debütkonzerts von Oslo in den hohen Norden Norwegens, um dort Rachmaninows 2. Klavierkonzert zu üben und seiner jüngsten Schwägerin nah zu sein. Ein Buch über Musik und Alkoholismus, über den hohen Norden an der Grenze zur Sowjetunion in den 1970ern, das mich anfangs anzog, vorübergehend sogar einen Sog entwickelte, bevor es mich zunehmend auf Distanz schickte. Während es all den anderen, autobiografisch inspirierten Büchern, die ich zuletzt las und besprach, stets gelang, aus dem Leben Kunst werden zu lassen, passiert bei diesem Buch schier das Gegenteil: Je länger ich es las, um so mehr fragte ich mich, wie viel vom Autor, der im selben Jahr geboren ist wie sein Protagonist, der ebenfalls Pianist und Komponist ist, steckt im Buch – und was aus seinem Leben versucht er so mit für mein Empfindem mäßig literarischem Geschick zu verarbeiten? Aber vielleicht fehlt mir auch wahlweise das Wissen über Musik oder der Hang zu (selbstmitleidigem) Alkoholismus, um das Buch angemessen zu verstehen. Dass es mir geholfen hätte, die beiden vorangegangenen Romane „Vindings Spiel“ und „Der Fluss“ zu lesen, die mit diesem eine Trilogie bilden, bezweifle ich. Da warte ich lieber gespannt darauf, das Buch einer musikalisch gebildeten Freundin weiterzugeben, um anschließend ihre Meinung dazu zu hören.