Wie anfangen – eine neue Intendanz, die erste Spielzeit, das erste Stück oder auch einfach nur einen Text über eben dieses? „Doktormutter Faust„, Fatma Aydemirs feministische Überschreibung von Goethes Klassiker, beginnt in der Inszenierung von Selen Kara gewissermaßen vor dem Anfang. Mir erschien das riesige Video eines Menschen in Embryostellung im Theaterdunkel des Essener Grillo-Theaters gestern Abend jedenfalls wie der Moment unmittelbar vor der Geburt. Oder war’s doch die Ruhe vor dem Sturm?
Dann treten aus dem bühnennebelgeschwängerten Dunkel drei schwarzgekleidete Gestalten auf, bei denen man erst nicht so recht weiß, sind’s gefallene Engel, Zombies, Rocker mit Fetischhang, bis sie zu sprechen beginnen und man begreift: Natürlich, das ist eine Neufassung von Goethes Vorspiel auf dem Theater, bloß halt mit Dichterin (Beritan Balci) und Theaterdirektorin (Silvia Weiskopf). „Faust“ soll es geben, und der Lustige Mensch (Nicolas Fethis Türksever) freut sich schon, dann das Gretchen zu spielen. Aber, nichts da, Gretchen muss abgeschafft werden, damit wir alle frei sind, argumentiert die Dichterin. Es geht ein bisschen hin und her, wie das denn funktionieren soll, dann treten die drei ab und das eigentliche Stück beginnt. Da Gott ja tot ist, wie konstatiert, kann man auf Goethes Prolog im Himmel auch verzichten.
Diese und andere Kürzungen tun dem Stück gut; mir jedenfalls schienen schon im Original „Faust“ drei Anfänge bzw. zwei Rahmen jeweils einer zu viel. Zugleich ist am Essener Vorspiel, wo die Figuren überwiegend zum Publikum sprechen, mir manches zu didaktisch und ich begann mich zu fragen, ob es eine gute Idee ist, sich so nah an Goethes Stück zu orientieren, dass man es ohne dessen Kenntnis vermutlich nicht verstehen kann, Erklärungen also möglicherweise zwingend nötig erscheinen mögen.
Denn das Stück um Doktormutter Margarete Faust (Bettina Engelhardt), eine renommierte Genderforscherin, die eine reaktionäre Gesellschaft per Verschwörung und Intrige loszuwerden sucht, und die selbst in einer Sinnkrise steckt, hat durchaus das Potenzial, für sich selbst zu stehen. Womöglich ginge es sogar ohne Mephisto (Nicolas Fethis Türksever) und seine Verführung, allein über den Widerstreit von drohendem Machtverlust einerseits und potenziell übergriffigem Begehren, das sich auf den von Abschiebung bedrohten Doktoranden Karim (Eren Kavukoglu) richtet? Wobei ausgerechnet auf Mephisto und damit auf Dispute wie Tänze mit ihm zu verzichten, wäre dann doch ein arger Verlust.
Ob das für jedes moderne Nebenthema (wie etwa den behaupteten, nie aber näher ausgeführten reaktionären Staat) und jede zitierte und überschriebene Szene des Originals so gilt, ist eine andere Frage. Auerbachs Keller als Bild mit all den Flaschen hat sicher was, nur schade, dass in dieser Szene wie auch in Teilen der Hexenszenen wenig bis nichts vom Text zu verstehen war. Und so ansprechend, ja verführerisch schön die Videos mit ihren nackten Menschen in dunklen Wassern und den Großaufnahmen symbolträchtiger Granatäpfel auch sein mögen – die Dunkelheit drumherum, die’s braucht, um das zur Geltung kommen zu lassen, bedeutet leider auch, dass über weite Strecken die Schauspieler:innen auf der Bühne im Dunkel bleiben. Und das ist wirklich schade, denn sie alle sind auf ihre jeweils ganz eigene Art großartig: Silvia Weiskopf agiert als Theaterdirektorin mit der selben, unbändigen Spielfreude wie als Hexe; Beritan Balci überzeugt als Valeria (sozusagen eine Wagner-Variante mit Mutterschaftstwist) und Bettina Engelhardt bewältigt bravourös ihre teils höchst theorielastigen Texte als Forscherin aus Leidenschaft wie auch das Ringen mit widersprüchlichen Emotionen. Nicholas Fethis Türksever ist ein ungemein beweglicher Mephisto, dessen rhetorische Stärke mit einer Art verleugneter Verlorenheit kontrastiert und Eren Kavukoglus Karim berührt, auch wenn er als Figur nicht immer genau zu wissen scheint, warum er etwas tut.
Womit ich beim Ende des Stückes wäre: Mit einer Anzeige hat Karim Dr. Faust in den Kerker gebracht, nun will er sie zurückziehen. Aber sie will sich weder von ihm noch von Mephisto retten lassen, sondern die Konsequenzen ihres Handelns tragen. Aha. Blackout. Das soll es also gewesen sein, die Rettung von uns allen dank Abschaffung der Figur des Gretchens, bloß dass diesmal dann Professorin Faust im Kerker bleibt? Als Bild ist das schön anzusehen, wie sie da steht im Ring aus Flaschen, der den Kerker wie einen Bannkreis markiert. Und doch hatte ich einen Knall erwartet, vielleicht nicht gerade einen Befreiungsschlag, aber doch wenigstens ein Ausrufezeichen als Schluss und nicht gefühlt ein Ende wie „…“
Der Premierenapplaus allerdings hatte es in sich und ich bin gespannt darauf, was noch kommen mag nach diesem ersten Stück von Fatma Aydemir, nach der Saisoneröffnung von Selen Kara und im Laufe ihrer Doppelintendanz mit Christina Zintl.