Ausgelesenes, die Erste

Bevor der Stapel der ausgelesenen Bücher mir über den Kopf wächst, gar auf den Fuß fällt, sollte ich doch mal loslegen und über diese schreiben. Und damit gleich mal was wegkommt vom Bücherhaufen, beginne ich mit dem dicksten Ding: „Identitti“ von Mithu Sanyal.

Ein kleiner Stapel Bücher auf einem Holzfußboden. Zuoberst liegt "Identitti" von Mithu Sanyal, dessen Cover eine Darstellung der Hindu-Göttin Kali ziert.
Ein wilder Ritt, als sei man mit Kali als persönlicher Reiseführerin unterwegs, um das Dickicht aktueller Idenititätsdebatten zu durchstreifen: „Idenititti“ von Mithu Sanyal

Dass ich mich immer wieder mit dem Thema Identität befasse, schreibend, lesend, unterrichtend, könnte der einen oder dem anderen bereits aufgefallen sein. Dass ich stets auch auf der Suche nach anderen Blickwinkeln und neuer Lektüre für meine entsprechenden Uni-Seminare bin, habe ich bestimmt auch schon mal im Blogg erwähnt – allein die gescheiterte Jagd nach geeigneten „literarischen Zwillingen“ 2015 … Als letztes Jahr dann Mithu Sanyals Debütroman „Identitti“ erschien, in dem sich alles um Identität, Postkolonialismus, Gender und die aktuellen Debatten dieser Themen dreht, war ich sofort hellhörig und begann darauf zu warten, dass der Roman der Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin endlich als Taschenbuch erscheint. Denn um im Seminar praktisch eingesetzt zu werden, sind E-Books genauso ungeeignet wie Hardcover. Doch während ich wartete, landete das gebunde Buch bereits zwischen meinen Geburtstagsgeschenken und ich stürzte mich hinein.

Ja, dieses Buch zu lesen hat tatsächlich etwas von dem Schleudergang, den laut Klappentext niemand so verlässt, wie er*sie ihn betrat. Mithu Sanyal gelingt das Kunststück, die Geschichte eines Skandals – die streitbare Düsseldorfer Professorin Saraswati ist gar keine Person of Coulour, wie sie behauptete, sondern weiß! – dramaturgisch so geschickt zu erzählen, dass sie ihren Leser*innen gleich mal sämtliche Kampfbegriffe aus den Identitäts- und Genderdebatten samt verschiedener, theoretischer wie aktivistischer Strömungen um die Ohren haut. Und nicht nur das: Ob man will oder nicht, ob man sich nun für jedes Detail dieser in vielem ja (zunächst, zuvörderst) akademischen Debatten interessiert oder damit bislang eher wenig bis nichts zu tun hatte, man wird hineingezogen nicht nur in die Geschichte, sondern auch in die Debatten. Mich hielt jedenfalls die Auseinandersetzung zwischen Saraswati, ihrer Doktorandin Nivedita, die zugleich die mixed-race Bloggerin Identitti ist und all den verschiedenen Gegnern über 420 Seiten am Ball und mehr als einmal hatte ich eigentlich bloß mal eben ein paar Seiten zu einem Pausentee lesen wollen, um mich eine Stunde und hundert Seiten später irritert zu fragen, wo ist bloß die Zeit geblieben …?

Das Buch ist gut recherchiert und mit vielen, teils brillanten Wendungen erzählt, was zu einer für ihre Hörstücke mehrfach ausgezeichneten Kultur- und Genderwissenschaftlerin passt. Obendrein fühlt es sich authentisch an, was gewiss auch daher kommt, dass die Autorin einerseits Nivedita ihren eigenen mixed-race Hintergrund verpasste und andererseits Saraswati eine Universitätsdozentin ist wie ihre Schöpferin auch. Dazu die wildwuchernden Einmischungen Kalis plus dem Sinn fürs Komische der alles durchzieht und den Humor zu einem der roten Fäden des Buches werden lässt, das nichts und niemand so ernst nimmt, wie er oder sie selbst das vielleicht tun würdem das ist köstlich.

Es hat Spaß gemacht, den Roman zu lesen und dabei immer wieder über die Wendungen der Debatten wie der Handlung zu staunen. An der Seite der Figuren zu reisen und dabei Kali wiederzubegegnen und einem Teil meiner eigenen Kindheit (denn Kali spielte eine große Rolle in den komplexen Phantasiespielen von meiner besten Freundin und mir), war besser und spannender als so mancher Abenteuerroman sein könnte. Dass am Ende sich manches wiederholt und vielleicht auch die eine oder andere Wendung zu viel sein könnte, tut dem kaum Abbruch.

Ich habe viel gelernt und (Wieder)entdeckt auf dieser Lesereise, das auf jeden Fall. Aber dass ich deswegen nun eine andere bin, als ich zuvor war? Das scheint mir doch etwas weit hergeholt. Die eher auktorialer Erzählweise, die das Ausbreiten großer Panoramen erlaubt, hat halt den Nachteil, dass man innerlich automatisch auf Distanz zu den Figuren bleibt. Und da es dem Buch auf die Argumente und nicht im literarischen Sinne auf die Sprache ankommt, taugt diese nicht dafür, diese Distanz zu überwinden. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, auch nicht, dass das die Intension dieses erzählerischen Großgemäldes (als hätten Breughel und Bosch 2020 geschrieben statt im Mittelalter gemalt) ist.

Und dem Buch zum Thema Rassismus und Identität, dem Buch, das mich wirklich ganz tief berührt und gepackt und womöglich so verändert hat, begegnete ich glücklicherweise ein paar Wochen später. Doch dazu beim nächsten Mal. 🙂

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