Flucht als Wille und Vorstellung

Es geht Schlag auf Schlag: Nur eine Woche nach seinen „Rundköpfen und Spitzköpfen“ erlebte gestern mit „Früchte des Zorns“ nach dem Roman von John Steinbeck pandemiebedingt Hermann Schmidt-Rahmers zweite Inszenierung ihre Premiere im Grillo-Theater. Und Schicksalsschlag auf Schicksalsschlag treibt die Geschichte der Familie Joad, die in den 1930ern vor der Dürre im Mittleren Westen nach Kalifornien flieht, voran. Aus Schmidt-Rahmers Leitfrage „Was, wenn wir die Vertriebenen sind?“ entsteht dabei in Essen ein Roadmovie im Puppenhaus.

Ein weißes, kastiges Puppenhaus ist Thilos Reuthers Bühne, indem sich auf zwei Stockwerken die Handlung abspielt.
Lene Dax, Silvia Weiskopf, Jan Pröhl, Ines Krug und Sven Seeburg in der Inszenierung „Früchte des Zorns“ nach dem Roman von John Steinbeck. Regie: Hermann Schmidt-Rahmer

Thilo Reuthers Bühne besteht nämlich aus diesem einen, großen, weißen Haus undefinierbar modernen Stils, bei dem nur noch die halbskelettierte Pappkuh im Vordergrund unmittelbar an die Dürrekatastrophe erinnert, die in den 1930ern die Menschen zu Tausenden von ihren Farmen in Oklahoma vertrieb. In diesem Haus, auf das immer wieder Bilder von heutigen Umweltkatastrophen und Flüchtenden projiziert werden, spielt sich die gesamte Handlung ab.

Aber, tut sie das wirklich? Erzählen die Figuren – die bestimmende Mutter (stark: Silvia Weiskopf), der vorsichtige Vater (tastend: Jan Pröhl), der rebellische Sohn Tom (aufgewühlt: Alexej Ekimov) sowie Rose (Trixi Strobl), Connie (Stefan Migge), Al (Dennis Bodenbinder), Onkel John (Thomas Büchel) und die Großeltern (Ines Kurg und Sven Seeburg), die auf der Flucht sterben -, was passiert oder sprechen sie von dem, was sie sich letztlich nur vorstellen?

Besonders zu Beginn klingt Schmidt-Rahmers Version der Texte aus Steinbecks Roman (deutsche Übersetzung: Klaus Lambrecht), als habe man sie in Textflächen à la Elfriede Jelinek verwandelt. Vieles wird gedoppelt, indem es erst von einer Figur wie hypnotisiert, leicht betäubt ins Publikum (oder in die Unendlichkeit hinaus, gar in sich selbst hinein?) gesprochen wird, um dann als Dialog zwischen mehreren Personen wiederholt und variiert zu werden. Ein Verfahren, das anfangs gewöhnungsbedürftig ist, dann aber einen Sog entwickelt, dem ich mich nur schwer entziehen konnte.

Dass alle Figuren rote Perücken tragen und genauso unauffällig gekleidet sind (Kostüme: Pia Maria Mackert), wie das Haus schlicht eckig-weiß-grau eingerichtet ist, sorgt dafür, dass erstmal nichts vom Text ablenkt. Oder doch nichts ablenkte, stünden Worte und Handlungen nicht permanent im Widerstreit miteinander: Wenn’s um die Suche nach kostbarem Nass geht, wird die Dusche aufgedreht, wo von der viel zu schlecht bezahlten Pfirsichernte die Rede ist, wird mit Dosenpfirsischen hantiert und irgendwann im zweiten Teil beginnen manche Figuren, auch noch Hirschköpfe zu tragen, etc.

Manches davon hat seinen Reiz, anderes übersah ich schlicht, weil der Text so viel interessanter ist als dieses Tun, das mich immer wieder an Übersprungshandlungen denken ließ. Und das bringt mich zurück zur Frage, ob die gezeigte Flucht vor der Dürre, die in einer Flutkatastrophe und Toms Wunschdenken von der Auflehnung der Armee der Verbitterten endet, als real zu verstehen ist. Oder ob das doch nur wir hier, heute, jetzt im Theatersaal sind, die sich die Flucht vorstellen und vielleicht das Wir, von dem Tom träumt, dazu.

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