1978. Die 23jährige S.H. geht von Minnesota nach New York City, um sich ein Jahr Zeit zu nehmen, ihren ersten Roman zu schreiben. 2017 findet sie als reife Frau und Schriftstellerin das Tagebuch samt Romanfragmenten wieder und beginnt eine doppelte Reise in und durch die Zeit. Und Siri Hustvedt macht aus all dem ein atemberaubendes Buch über Erinnerungen und Zukunftsträume, über Zeit und Bewusstsein, das Schreiben und das Leben an sich – das ist die kürzeste Formel, auf die ich ihr Memories of the Future bringen kann.
Vom Setting und Thema her – junges Alter Ego der Autorin begibt sich Ende der 1970er nach New York, um erste schriftstellerische Erfahrungen zu sammeln und wird dabei (teils gewaltsam) in die Geschichten ihrer Mitmenschen verstrickt – gleicht der aktuelle Roman damit in mehr als einer Hinsicht ihrem Debüt The Blindfold. Dabei liegt der größte, augenfälligste Unterschied für mich in der Sprache – kein Wunder, denn wie jede Autorin, jeder Künstler ist Siri Hustvedt zuallererst ein stets dazulernender Mensch. Und wie sie die Kunst zu beherrschen gelernt hat, mit Sprache eine Welt zu erschaffen, sie mit Charakteren und Geschichten zu bevölkern, und damit zugleich Gedanken, Ideen zu transportieren, die zahllose Türen im Bewusstsein ihrer Leserin öffnen!
Wenn ich etwa lese, was die reife S.H. über ihr jüngeres Selbst auf S. 28f zu sagen hat:
In this respect, we differ, my former self and I. It was impossible for me to know at twenty-three that the dreadful phrase „life is short“ has meaning, that at sixty-one I kow there is far less ahead of me than behind me, and that while she wasn’t terribly curious about herself as herself, I have become curious about her as an incarnation of hopes and errors that had or seem to have had a determining effect on what I am now.“
— wie könnte ich, Tagebuchschreibende seit meiner Kindheit, die ich schon viele Jahre Seminare über Identität und Literatur gebe (was ein nicht ganz passender Begriff ist, denn ich bin dabei ja sowohl Gebende als Empfangende), nicht an so einer Stelle innehalten, weil ich eben über die Frage stolpere, würde ich es wollen, mich so schonungslos meinem jüngeren wie meinem älteren Selbst zu stellen, wie S.H. es in diesem Buch tut?
Gewiss, ein solches Unterfangen verspricht in der fruchtbaren Grauzone zwischen Autobiografischem und Fiktionalem mehr Erfolg denn als reine Erkundung der eigenen Vergangenheit. Aber die Grundfrage, die bei Hustvedt Chapter Seven auf Seite 128 einleitet, bleibt die Gleiche:
Can the past serve as a hiding place from the present? Is this book you are reading now my search for a destination called Then? Tell me where memory ends and invention begins.
Was ist wirklicher: das Jetzt, das doch stets vergangen ist, bevor man es noch halbwegs mit Worten eingefangen hat, oder die Erinnerung an die Vergangenheit, die man rückblickend im jeweiligen Jetzt (das sich nicht einfangen lässt) konstruiert? Und wo genau unterscheidet sich das innerpsychisch, im eigenen Erleben, vom rein Erfundenen – sei es das Erfundene eines anderen, das man vielleicht gerade als Buch liest, oder auch etwas, das wir selbst gerade erfinden, schreibend, malend, denkend, träumend, etc.?
Aber setzt das Erfinden nicht auch so etwas wie freien Willen voraus? Zum eigenartigen Tanz der Auffassungen zu diesem Thema lässt die in den Neuwowissenschaften höchst belesene Siri Hustvedt ihr reifes Alter Ego S.H. zu Beginn von Chapter Eleven (p. 184f) folgendes über ihren Zustand als junge Fau nach einem sexuellen Übergriff sagen:
And this, I dare say, is how time loses all forward momentum and spins in place. The problem is an old one: Could I have changed what happened? I have read many arguments on the problem of free will. I have consulted with Augustine and Aquinas and wrestled with the famous demon in Laplace, whose intellect surveys of Everywhere and from that ultimate view, guided by ultimate laws, foretells all that is to come. I have chased after colliding principles in logic and waltzed with Heisenberg’s uncertainty principle, but what I am left with is that we human beings must believe in our own volition, whether we have it or not. We must feel that we act freely or we are finished. And so the ironies thicken: By insisting that I was to blame for my humilitation, I was able to retain some sense that I could decide my fate.
Wie naheliegend und logisch, ja geradezu zwingend – und doch, obwohl mir beides vertraut ist, das Beharren als Gewaltüberlebende, ich hätte einen nennenswerten Einfluss auf das, was ein Angreifer mit antat, gehabt, wie auch die Beschäftigung mit Heisenberg & Co. samt Frage nach dem freien Willen – ohne dieses Buch hätte ich diese beiden Gedanken nie so zusammengebracht. Und das, obwohl ich schon immer den Verdacht hatte, dass selbst die vehemensten Verfechter der These, so etwas wie freien Willen gäbe es nicht, am Abend, wenn sie aus der neurowissenschaftlichen Fakultät nach Hause gehen, durchaus überzeugt sind, dass sie dies tun, weil sie es so wollen …
Aber womöglich wäre hier die Frage zu stellen, wer oder was der Träger des freien Willens ist (oder wer das ist, dem genau dieser abgeht)? In einer Szene mit ihrer besten Freundin Whitney erklärt sich die junge S.H. die Frage nach der Natur des Ichs, des Selbsts, so:
Whitney said, „What’s wrong with you, Minnesota? You’re not yourself.“
I asked what Whitney what she meant by „not myself“. Maybe a self is just a bunch of little stories glued together in some haphazard way that we use to comfort ourselves.
Wir erzählen uns unsere Geschichten, die unser Selbst ausmachen, also so ähnlich wie Kinder, die zum Vertreiben der Angst im dunklen Keller singen … das hat doch was, oder?
Aber wenn es in Ihrem Keller ein Licht und vielleicht auch einen Lesesessel gibt, dann würde ich Ihnen dringend raten, selbst Memories of the Future zu lesen und zum Reisegefährten der reifen S.H. zu werden, während Sie selbst sich parallel garantiert auf eigene Abwege in eigene Abzweige Ihrer persönlichen Vergangenheit begeben … für mich war es jedenfalls eine sehr spannenden und lehrreiche, eine beeindruckende und berührende Reise, die noch lange nachhallt.