Es ist zwar schon fast zwei Wochen her, dass ich mit einer Freundin das Dover Quartett in der Essener Philharmonie hörte & sah, aber das heißt ja nun nicht, dass alle Eindrücke davon verflogen wären. Unbedingt hin zu diesem Konzert wollte ich, weil mit dem Quartett No. 9 etwas von Schostakowitsch auf dem Plan stand, und ich seit der Lektüre von Julian Barnes‚ „The Noise of Time“ auf eine Gelegenheit gewartet hatte, endlich live herauszufinden, ob die Klänge, die das Buch in meinen Kopf brachte, irgendetwas mit der Realität zu tun haben …
… aber die Gelegenheit dies zu überprüfen, bekam ich nicht, denn die Bratschistin Milena Pajaro-van de Stadt erkrankte und mit ihrem Ersatzmann Che-Hung Chen ersetzte das 19. Jahrhundert in Gestalt von Beethovens Streichquartett op. 95 die russische oder vielmehr sowjetische Musik des 20. Jahrhunderts. Und, überflüssig zu sagen, die Meldung dazu hatte ich im Vorfeld natürlich verpasst, so dass ich gewissermaßen „genialisch überrascht“ wurde. 😉
Wobei der Abend einer der erstaunlichen Steigerungen war: Den Anfang machten Mozarts Adagio und Fuge c-Moll (KV 546), getragener, irgendwie auch simpler (nicht im schlechten Sinne!), als ich den Schöpfer der „Zauberflöte“ und von „Cosi van tutte“ in meinem geistigen Ohr sonst höre. Danach beeindruckte Beethoven – unbestreitbar ein furioser Meister der Musik, der über eine beeindruckende Bandbreite im Ausdruck verfügt, die ich wiederum mit meinem begrenzten Musikvokabluar nicht fassen kann. Doch die noch viel größere musikalische Überraschung war für mich Brahms. Aus welchen Gründen auch immer, ich war überzeugt, er sei in jedem Fall schwer, dunkel, melancholisch, getragen — aber doch nicht zugleich heiter und bewegt, komplex und manchmal sogar kokett wie sein Streichquartett B-Dur, op. 67!
Überdies war es nicht nur ein Genuss, Joel Link (Violine), Bryan Lee (Violine) und Camden Shaw (Violoncello) – der offenbar alle Stücke im Kopf, jedenfalls weder Blatt noch Tablet vor sich hatte -, und eben Che-Hung Chen an der Bratsche zuzuhören. „Wie schön sie zusammen spielen!“, rief meine Begleiterin irgendwann leise aus, und wenngleich ich im ersten Moment stutzte – frei nach dem Motto, wäre ja auch noch schöner, sie spielten gegeneinander -, sie hatte absolut recht. Das, was zwischen diesen vier Menschen, ihren Instrumenten und der Musik passierte, war etwas Besonderes, sehr nah, sehr miteinander, als seien die Kompositionen und diese Leben genau dafür gedacht genau hier genau so zusammenzukommen.
Man merkt, ich gerate begeistert ins Schwimmen – aber was ich meine, ist dies: ein Philharmonieorchester mag ein viel größerer Klangkörper sein, ohne den Dirigenten zerfiele er in seine Glieder. Auch da gibt es natürlich Zusammenspiel (hoffentlich, sonst ist das Konzert misslungen), zwischen den Instrumentengruppen, zwischen Solisten und dem Ganzen, etc, pp. Aber damit es funktioniert, braucht es den Dirigenten mit seinem Willen, seinem Verstand und gewiss auch seinem Gefühl. Nur wenn er es denken und mit dem Orchester umsetzen kann, klappt das.
Beim Dover Quartett dagegen war es, als sähe man vier sehr verschiedenen Menschen dabei zu, vier Individuen, die entschieden haben, ihre Fähigkeiten ganz und gar zusammenzuwerfen, um gemeinsam Musik zu machen. Und wen sie nicht mit ihrer Zugabe von Benjamin Britten hatten, der muss wohl mindestens so taub gewesen sei wie der alte Beethoven 😉
Was im Nachgang mindestens drei Fragen aufwirft: welche Nuancen wären mit Bratschistin Milena Pajaro-van de Stadt anders gewesen? Wie hätte sich Schostakowitsch mit diesen vier angehört? Und wann gibt es endlich, endlich die nächsten Gebührenkarten, damit ich als wenig betuchte Autorin mir möglichst viele weitere Besuche solcher und anderer Vorstellungen auch leisten kann?