Am Boden

Was wäre, wenn Odysseus jeden Abend vom Krieg nach Hause gekommen wäre?, fragt sich die Pilotin, als sie nach der Babypause nicht mehr mit ihrer F16 ins Blau über dem Irak aufsteigen darf, sondern von nun an aus dem Halbdunkel eines Containers in Nevada eine Reaper steuert – also allabendlich vom Drohnenkrieg am grauen Bildschirm zurück ins traute Familienheim am Rand von Las Vegas kehrt. Jetzt feierte George Brants Monolog „Am Boden“ inszeniert von Felicia Daniel und wandelbar ausgestattet von Gesa Gröning in der Box in Essen Premiere. Herausgekommen ist vor allem dank der beeindruckenden, schauspielerischen Leistung Sabine Osthoffs ein intensiver und packender Abend.

12 Stunden voraus, anderthalb Sekunden entfernt und zugleich mittendrin: Drohnenpilotin (Sabine Osthoff) bei der Arbeit. (Foto: Diana Küster)

Am Anfang ist Osthoff ganz Physis, immer in Bewegung, athletisch – verkörpert mit jeder Faser die weibliche Version eines Fliegerraubeins bzw. eines Top-Gun-Piloten. Dann kommt die Liebe dazwischen, bremst sie aus, zwingt sie auf den Boden („Grounded“ lautet ja auch der Originaltitel). Und als sie nach drei Jahren zurück in den aktiven Dienst will, ist es vorbei mit der „Fliegerherrlichkeit“, nun beherrschen Drohnen die Lüfte. Allerdings werden sie von einem Team dort oben gehalten, und die Pilotin ist nun der Daumen am Abzug, jemand, der im Schichtwechsel „die Schuldigen“ beobachtet und aus sicherer Distanz eliminiert.

Aber genau das funktioniert nicht so recht. Sie mag sich eingewöhnen in die neue Routine der 12 Stunden Schichten mitsamt der einstündigen Fahrten zum Container in die Wüste. Und an die schönen Stunden mit Tochter und Mann. Doch wie soll sie das in Einklang bringen mit dem Krieg, der ihren Tag beherrscht, auch wenn er weit weg ist? Zuhause darf sie nicht darüber reden, aber das Offizierskasino mit billigem Bier und Billard, wo man mit Kameraden, anderen Wissenden, sozusagen, entsprechend Dampf ablassen konnte, gibt es nicht mehr. Aus den Containern in der Wüste wollen alle stets nur weg.

Und so wird der Krieg ohne Todesgefahr für die Soldatin zu Bedrohung des privaten Lebens, ja ihres eigenen Wesens. Alles bekommt Risse, die Ehe, die Liebe, das Selbstverständnis – und das Erleben der Welt: eben noch allmächtiges Drohnenauge am Himmel, steht sie im nächsten Moment mit ihrer Tochter in der Mall und fragt sich, wo wohl die Leute sitzen, die die Kamerabilder aus den Umkleidekabinen betrachten. Allmacht und Ohnmacht liegen so dicht beieinander, dass man sie für Kehrseiten derselben Medaille halten könnte. Was nicht auszuhalten ist für ein menschliches Ego und unvermeidlich zur Katastrophe führt.

So lässt sich auf der Ebene des Plots und des schauspielerischen Darstellung mein Erleben des gestrigen Abends skizzenhaft nachzeichnen – und lässt mich bedauern, dass ich kein „Tonband“ im Kopf habe. Denn der Text an sich wäre mehr als nur einen allgemeinen Satz wert, steckt er doch voller Rhythmus, als ein dynamisches Gespinst aus Wiederholung und Variation, von Metaphern, Bildern und sogar Klängen, eben wunderbaren Details. Es passiert mir äußerst selten bei der Übersetzung (Henning Bochert) eines modernen Stücks, dass ich am liebsten gleich den englischen wie den deutschen Text nachlesen möchte. Und mir wünsche, danach könnte ich gleich ein weiteres Mal in die Box gehen, um über Fragen von Leben und Tod, Krieg und Liebe, Allmacht und Ohnmacht zusammen mit der Pilotin nachzudenken und meine eigenen Schlüsse zu ziehen …

… und Sie, worauf warten Sie noch? Hören Sie endlich auf, Ihren Bildschirm anzustarren und meinen Text zu lesen, sehen Sie lieber zu, dass Sie eine Karte für eine der nächsten Vorstellungen von „Am Boden“ in der Box bekommen!

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