Eine Auffälligkeit in der Essaysammlung „What are we?“ ist, dass Siri Hustvedt immer wieder auf Multiple Persönlichkeiten (auch DIS genannt) zurückkommt. Ihr geht es dabei zumeist um Vergleiche mit kreativen Prozessen beim Schreiben bzw. um das Verständnis anderer, selbst erfahrener, dissoziativer Prozesse, wie etwa das folgende Zitat zeigt:
In my book The Shaking Woman, I quoted the following passage from Janet’s lectures, and I have never stopped thinking about it: „In reality what has disappeared is not the elementary sensation. It is the faculty that enables the subject to say clearly, ‚It is I who feel, it is I who hear.'“
[Siri Hustvedt, „I Wept for Four Years and When I Stopped I Was Blind“, in: „What Are We?“, from „A Woman Looking at Men Looking at Women“, p. 404]
Besser kann man Dissoziation nicht beschreiben – und auch nicht treffender, wie es sich (unserer Erinnerung nach) anfühlte, wenn ein neues ‚Ich‘, in einem Multiplen Persönlichkeitssystem ‚geboren‘ wird: etwas geschieht, etwas, das an sich nicht auszuhalten ist, und dann sagt jemand sinngemäß „Ich bin das, mir geschieht das.“ Ein eigenartiges Gefühl, so viele Jahre, Jahrzehnte später über eben diesen Satz, diese Erkenntnis bei einer anderen Autorin und einer nicht-multiplen noch dazu, zu stolpern.
Ist das verwandt mit dem Gedanken, den Hustvedt im Essay „Becoming Others“ mit Verweis auf entsprechende psychologische Theorien Winnicots wie folgt äußert:
This potential or imaginative space is where the child plays and the artist works; it is „a third area“, one Winnicott maintains we never outgrow but to which we continually return as part of ordinary human creativity. One might say there is a form of normal mixing going on. The making of art takes place in a borderland between self and other. It is an illusory and marginal but not hallucinatory space.
[Hustvedt, „What are we?“, p. 374]
Dass Kreativität in einem Dazwischen stattfindet, dass man in der Welt, die man selbst gerade er-findet versinkt, nahezu völlig aufgeht, aber natürlich zugleich in einem Teil seiner Selbst weiß, das ist etwas anderes als die Realität, macht Sinn. Die Charaktere, die man beim Schreiben erschafft, sind natürlich Erfindungen, aber sie sind eben zugleich auf eine seltsame Art unabhängig bzw. halt nicht so einfach dem Willen des Schreibenden unterworfen. Sie haben ihren eigenen Kopf – vielleicht ganz ähnlich wie Figuren im Traum, aber dann doch nicht so autonom wie die anderen im Körper einer Multiplen Persönlichkeit.
Doch noch jemand anders ist am kreativen Prozess beteiligt, geradezu unabdingbar für diesen: der Leser oder die Leserin nämlich. Und für diesen muss die Welt, die die Autorin erschafft, nachvollziehbar sein:
Just as conscious autobiographical memory needs a space and ground, the characters in a work of fiction do not float in an empty world. The reader and the writer must share a sense of spatiotemporal reality. Even if story takes place on another planet, there must be aspects of this altered reality a reader can grasp.
[Hustvedt, „What are we?“, p. 384]
So hält es Hustvedt in ihrem Essay „Why One Story and Not Another?“ fest, in dem sich eines meiner liebsten Zitate von ihr findet, das sich in ganz besonderer Weise mit dem Leser befasst – nämlich mit dem idealisierten oder auch vorgestellten Leser, den man beim Schreiben als Gegenüber im Kopf hat:
In my case, the fantasy person is someone who gets all my jokes, references, and puns and has read every single book I have read. I have come to understand that, despite my great longing for this stranger, she or he does not exist.
[Hustvedt, „What are we?“, p. 391]
Als ich dieses in meinen Autorinnenaugen geradezu intime, schonungslos offene Geständnis Hustvedts las, wollte ich zwei Dinge auf einmal: ihre „fantasy person“ sein und wissen, wie mein innerer Leser eigentlich aussieht. Beides liegt aber wohl außerhalb meiner Möglichkeiten. So sehr, wie ich bereits meinen eigenen Lektürevorstellungen hinterhinke, werde ich es kaum schaffen, allein all die wissenschaftlichen Bücher zu lesen, die Hustvedt verschlungen haben muss. Und meine innere Leserin erweist sich als ungefähr so greifbar wie eine Traumgestalt – ich weiß nicht einmal sicher, ob es sie gibt oder ob ich nicht vielmehr schreibend nach ihr suche? Und wie könnte ich sie (oder ihn?) in Einklang bringen mit Hustvedts Beobachtung, dass wir unsere Emotionen physisch erleben und ebenso körperbezogen in Worte kleiden? Kann ich meine innere Leserin etwa nicht greifen, weil ich mir keinen Körper für sie vorstellen kann?
We all live our emotions (supposedly psychological faculties) bodily – in a flush of shame, in the genital burn of lust, in hot, breathless fury, or the lift of elation when a good idea hits us.
[Hustvedt, „What are we?“, p. 409]
Schon merkwürdig: wir denkende, fühlende Wesen außerhalb von Buchdeckeln und Ebookreadern haben Körper, ohne die unsere geistigen Fähigkeiten gar nicht denkbar wären – und dann denken wir uns denkende, fühlende Wesen aus, die ausschließlich in Form von Erzählungen existieren, aber die Sprache, die ihr einziges Existenzmedium ist, ist wiederum von physischen Metaphern durchzogen.
Gedanken und Vorstellungen zum schönen Schwindligwerden. Eigentlich eine verdammt gute Vorbereitung für eine Nacht voll von Träumen, die dann womöglich Samenkörner kreativer Ideen werden … in diesem Sinne sage ich für heute erstmal gute Nacht 🙂